---------------------------------------------------------------
В кн.: "Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten". Atrium
Verlag, Zürich. Printed in Germany 1999. OCR & spellcheck by
Pashka-Nemets, 5 February 2003
---------------------------------------------------------------
Vorwort des Verfassers
Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch kursierten im
Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile, und es wurde noch von manchen,
die es lobten, mißverstanden. Wird man's heute besser verstehen?
Ge-wiß nicht! Wie denn auch? Daß im Dritten Reich die
Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und millionenfach
geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere
Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich regenerieren konnten,
bereits neue, genauer, sehr alte Mächte fanatisch dabei, wiederum
standardisierte Meinungen - gar nicht so verschieden von den vorherigen -
durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht
mehr, daß man sich Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie
sich darum bemühen, wissen sie nicht, wie man's anfängt. Und schon sind,
angeblich zum Schütze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und
Literatur in Vorbereitung. Das Wort "zersetzend" steht im Vokabular der
Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimpfung ist eines
jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft,
auch erreichen.
So wird heute noch weniger als damals begriffen werden, daß der
"Fabian" keineswegs ein "unmoralisches", sondern ein ausgesprochen
moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen
Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete "Der Gang vor die
Hunde". Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß
der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem
Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er wollte
mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen
Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende
seelische Depression, die Sucht, sich zu betäuben, die Aktivität
bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch
die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht - die einer epidemischen
Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und
der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lieber hörte
man den Jahr marktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und
giftigen Patentlösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein
in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und
uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals
schildert, ist kein Poesie- und Photographiealbum, sondern eine Satire. Es
beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner
Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur,
ein legitimes Kunstmittel, ist das äußerste, was er vermag. Wenn auch
das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt
nichts hilft, ist - damals wie heute - keine Seltenheit. Eine Seltenheit
wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter
Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann,
aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
Erich Kästner
ERSTES KAPITEL
Ein Kellner als Orakel
Der andere geht trotzdem hin
Ein Institut für geistige Annäherung
Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die
Schlagzeilen der Abendblätter. Englisches Luftschiff explodiert über
Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem
Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im
Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche
Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke
für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an
den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000
Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über
das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts
Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug
schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am
Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt
hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an
und rief den Kellner.
"Womit kann ich dienen?" fragte der.
"Antworten Sie mir auf eine Frage."
"Bitte schön."
"Soll ich hingehen oder nicht?"
"Wohin meinen der Herr?"
"Sie sollen nicht fragen, Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder
nicht?"
Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von
einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: "Das beste wird
sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr."
Fabian nickte. "Gut. Ich werde hingehen. Zahlen."
"Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!"
"Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen!"
"Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?"
"Dann auch. Bitte zahlen!"
"Das versteh ich nicht!" erklärte der Kellner ärgerlich. "Warum haben
Sie mich dann überhaupt gefragt?" "Wenn ich das wüßte", antwortete
Fabian.
"Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig Pfennig", deklamierte der andere. Fabian legte eine Mark auf den
Tisch und ging. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am
Wittenbergplatz auf den Autobus I klettert, an der Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten
später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die
Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man
ist.
Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet, über
Holzkohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stundenhotels entlang, zum
Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, die ihm
Bertuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau
Sommer. Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn
ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er beschied das
Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem
Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein
Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die
Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hochhebt, um das
Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt. Dann holte er von der steifen
Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. "Besucht die Exotikbar,
Nollendorfplatz 3, Schöne Frau en, Nacktplastiken, Pension Condor im
gleichen Hause", stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung,
er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hinunter, auf den jungen
Mann in der Joachimsthaler Straße, im Gewimmel der Menge, im
Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig
entzündeten Nacht.
Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den
Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge
war es, mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen
Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die
Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte.
"Passense auf!" schrie der Polizist.
Fabian zog den Hut und sagte: "Werde mir Mühe geben."
In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner,
erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Mantel und
verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame,
bestimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte: "Darf ich Sie in mein
Büro bitten?" Fabian folgte.
"Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen."
Sie blätterte in einem Heft und nickte. "Bertuch, Friedrich Georg,
Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraße 9,
musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünfundzwanzig Jahre
alt."
"Das ist er!"
"Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in dieser Zeit
fünfmal anwesend."
"Das spricht für das Institut."
"Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn Mark
extra."
"Hier sind dreißig Mark." Fabian legte das Geld auf den
Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine Schublade, nahm
einen Federhalter und sagte: "Die Personalien?"
"Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit
Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was
müssen Sie noch wissen?"
"Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?"
"Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine
Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber
das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei." Irgendwo
wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst:
"Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt
machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen,
sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren.
Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur
vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Der idealen Absichten
des Unter-nehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen.
Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu
werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub
zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht
den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu
gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu
vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie
mich verstanden, Herr Fabian?"
"Vollkommen."
"Dann bitte ich Sie, mir zu folgen." Dreißig bis vierzig Personen
mochten anwesend sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde
getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an, sagte,
daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und
verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksoda
und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesellschaft?
"Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind", bemerkte ein kleines
schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu
rauchen an.
"Sie wirken sympathisch", sagte sie. "Sie sind im Dezember geboren."
"Im Februar."
"Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte
Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?"
"Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Substanzpartikel
bestünden aus umeinander kreisenden elektrischen Energiemengen. Halten Sie
diese Ansicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung, die dem wahren
Sachverhalt entspricht?"
"Empfindlich sind Sie auch noch?" rief die Person. "Aber es macht
nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?"
Er hob die Schultern. "Ist das ein förmlicher Antrag?"
"Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist
nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die
Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als
Ehemann vor."
"In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen." Sie lachte,
als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf sein Knie. "Richtig
gehofft! Man behauptet, ich litte an stellungssuchender Phantasie. Sollten
Sie im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen,
meine Wohnung und ich sind klein, aber stabil." Er entfernte die fremde und
unruhige Hand von seinem Knie und meinte: "Möglich ist alles. Und jetzt will
ich mir das Lokal ansehen." Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und
umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm
und sagte: "Man wird gleich tanzen."
Sie war größer als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige
Schwadroneuse befolgte die Statuten und ver-schwand. Der Kellner setzte das
Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewegung. Man tanzte. Fabian
betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blasses infantiles
Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein
schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener Grad von
Schweigsamkeit erreicht wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines
belanglosen dazu, unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den
Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander
neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufgerissen hatten.
Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen
Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nicht
auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie
breche auf. Er ging mit.
Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein
und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen. "Aber ich habe nur noch zwei
Mark", erklärte er. "Das macht fast gar nichts", gab sie zur Antwort, und
dem Chauffeur rief sie zu: "Licht aus!" Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an
und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn
in die Unterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Verdeckscharnier,
hielt sich den Kopf und sagte: "Aua! Das fängt gut an."
"Sei nicht so empfindlich", befahl sie und überschüttete ihn mit
Aufmerksamkeiten.
Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm weh. Fabian
war nicht bei der Sache. "Ich wollte eigentlich, bevor Sie mich erwürgen,
noch einen Brief schreiben", röchelte er.
Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen,
die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte weiter. Seine Bemühung,
sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung
führte zu neuen Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere
Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.
Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Gesicht,
bezahlte die Fahrt und äußerte vor der Haustür: "Erstens ist dein
Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee."
Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte: "Ihr Antrag
ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein."
"Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen wird dich
wecken."
"Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen.
Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Telegramm. Das bringt die Wirtin
ms Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache."
"Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten
wirst?"
"Ich weiß sogar, was drinsteht."
"Nämlich?"
"Es wird heißen: "Scher dich aus dem Bett. Dein treuer Freund
Fabian." Fabian, das bin ich." Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute
sich über den gelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still.
Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser
entlangspazieren könnte!
"Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?"
"Nein, aber das ist der pure Zufall", sagte er.
"Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konsequenzen nichts
liegt?" fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf.
"Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig."
"Also hopp!" sagte sie. "Der Neugier sind keine Schranken gesetzt." Die
Tür schloß sich hinter ihnen.
ZWEITES KAPITEL
Es gibt sehr aufdringliche Damen
Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
Betteln verdirbt den Charakter
Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschentuch und rieb
die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Krawatte saß schief. Die
Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. "Wissen Sie,
was eine Megäre ist?" fragte er. Sie legte den Arm um ihn. "Ich weiß
es, aber ich bin hübscher."
Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete. "Bringen Sie uns
Tee." "Der Tee steht in Ihrem Zimmer."
"Gut. Gehen Sie schlafen!" Das Mädchen verschwand im Korridor.
Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ins Schlafzimmer,
schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaretten zurecht und sagte mit einer
umfassenden Geste: "Bediene dich!"
"Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!"
"Wo?" fragte sie.
Er überhörte das. "Sie heißen Moll?"
"Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasiumbildung etwas zu lachen
haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder."
Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß. "Na, es wird ja
langsam", meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee und ein
Glas Kognak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit.
Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er
trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert war es nicht. Was
hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und
hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu
reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände.
Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie
untersuchen wollte, mußte sie haben. Nur während man sie besaß,
konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele
aufschnitt.
"So, nun wird der kleine Junge geschlachtet", sagte die Blondine.
Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen
Schritt zurück. Sie aber rief "Hurra!" und sprang ihm derart an den Hals,
daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dame auf den
Fußboden zu sitzen kam.
"Ist sie nicht schrecklich?" fragte da eine fremde Stimme. Fabian
blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein
dürrer, großnasiger Mensch und gähnte.
"Was wollen Sie denn hier?" fragte Fabian.
"Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß
Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen."
"Mit Ihrer Frau?"
Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vorwurfsvoll:
"Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du
schon wünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du
sie mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das
wird dem Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als du
mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsanwalt und
außerdem", er gähnte herzzerreißend, "und außerdem der
Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht."
Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und ordnete
seinen Scheitel. "Hält sich Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein Name
ist Fabian." Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Es freut mich,
einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die Umstände sind ebenso
gewöhnlich wie unge-wöhnlich. Das ist Ansichtssache. Aber falls Sie der
Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz."
Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne, streichelte
ihn und sagte zu ihrem Mann: "Wenn er dir nicht gefällt, brech ich den
Kontrakt."
"Aber er gefällt mir ja", antwortete der Rechtsanwalt.
"Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen oder ein
Rodelschlitten", meinte Fabian.
"Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!" rief die Frau und
preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust.
"Himmeldonnerwetter!" schrie er. "Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!"
"Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene", erklärte Moll.
"Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und ihm dort alles
Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die Situation als
merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir dann wieder herüber.
Gute Nacht." Der Rechtsanwalt gab seiner Frau die Hand. Sie stieg in ihr
niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwischen den Kissen und sagte:
"Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch."
"Ja, ja", antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zündete sich eine
Zigarette an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke über die Knie und
blätterte in einem Ak-tenbündel.
"Mich geht zwar die Sache nichts an", begann Fabian, "aber was Sie sich
von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem
Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?"
"Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung
als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen
Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: "Die Vertragspartnerin verpflichtet
sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich
dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen,
unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten. Jedes
Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der
finanziellen Monatszuwendung geahndet." Der Kontrakt ist sehr interessant.
Soll ich ihn in extenso vorlesen?" Moll holte den Schreibtischschlüssel aus
der Tasche.
"Bemühen Sie sich nicht!" Fabian wehrte ab. "Wissen möchte ich nur,
wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen Kontrakt überhaupt
aufzusetzen."
"Meine Frau träumte so schlecht."
"Wie?"
"Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offensichtlich,
daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehedauer zunahmen und
Wunschträume erzeugten, von deren Inhalt Sie, mein Herr, sich
glücklicherweise noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück,
und sie bevölkerte ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und
Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlössen einen Vertrag."
"Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgreicher und
geschmackvoller gewesen wäre?" fragte Fabian ungeduldig.
"Zum Beispiel, mein Herr?" Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht.
"Zum Beispiel:
pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?"
"Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh."
"Das kann ich gut verstehen."
"Nein!" rief der Rechtsanwalt. "Das können Sie nicht verstehen! Irene
ist sehr kräftig, mein Herr."
Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der
Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich, lief im
Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermutlich hatte es dem alten
langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht, von seiner Frau übers Knie gelegt
zu werden.
"Ich will gehen", sagte er. "Geben Sie mir den Hausschlüssel!"
"Ist das Ihr Ernst?" fragte Moll ängstlich. "Aber Irene erwartet Sie
doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten,
wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sie
weggeschickt. Bleiben Sie bitte! Sie hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie
ihr doch das kleine Vergnügen!"
Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. "Bleiben
Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie werden wiederkommen. Sie werden
unser Freund bleiben. Und ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie's
mir zu Gefallen."
"Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monatseinkommen
garantieren?"
"Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvermögend."
"Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich eigne mich
nicht für den Posten."
Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fabian einen
Schlüsselbund und sagte: "Jammerschade, Sie waren mir von Anfang an
sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar Tage. Vielleicht überlegen
Sie sich's. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen."
Fabian knurrte: "Gute Nacht", ging leise durch die Diele, nahm Hut und
Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hinter sich zu und galoppierte
die Treppe hinunter. Auf der Straße holte er tief Atem und schüttelte
den Kopf. Da spazierten die Menschen hier unten vorüber und hatten keine
Ahnung, wie verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe,
durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine Kleinigkeit gegen
die Leistung, das, was man dann sähe, zu ertragen.
"Ich bin sehr neugierig", hatte er der blonden Person erzählt, und nun
lief er auf und davon, statt seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern.
Dreißig Mark war er losgeworden. Zwei Mark hatte er noch in der
Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und
quer durch düstere, unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor den
Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er m die
Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der
Spichernstraße aus der Unterwelt wieder herauf unter den freien
Himmel.
Er ging in sein Stammcafé. Nein, Doktor Labude sei nicht mehr da. Er
habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, bestellte Kaffee und rauchte.
Der Wirt, ein gewisser Kowalski, erkundigte sich nach dem werten
Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr Komisches passiert. Kowalski
lachte, daß die falschen Zähne blitzten. Der Kellner Nietenführ habe
es zuerst beobachtet. "Dort drüben am runden Tisch saß ein junges
Paar. Die beiden unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Zigarette an und war
von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist."
"Das ist doch nicht komisch."
"Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die Frau -
hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte gleichzeitig mit
einem Herrn vom Nebentisch. Und das in einer Weise! Nietenführ holte mich
unauffällig heran. Der Anblick war toll. Der Kerl steckte ihr
schließlich einen Zettel zu. Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen
Wisch und warf ihn auf den Nebentisch. Währenddessen sprach sie aber auch
auf ihren Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -
ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Simultanspielerin
übertraf alle."
"Warum ließ er sich denn das gefallen?"
"Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt sofort! Also, wir
wunderten uns natürlich auch, warum er sich das bieten ließ. Er
saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig, legte den Arm um ihre
Schultern, und während-dessen nickte sie dem Mann vom Nebentisch zu. Der
nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging
dann hinüber, weil sie zahlen wollte." Herr Kowalski steckte den massigen
Kopf hoch und lachte himmelwärts. "Nun, woran lag's?"
"Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!" Der Wirt machte
eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fabian blickte erstaunt
hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar.
An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfskellner waren
damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen. "Scheren
Sie sich auf der Stelle fort. Den ganzen Tag diese Bettelei, das ist
ekelhaft", sagte Nietenführ zischend. Und der Hilfskellner zerrte den
Menschen, der blaß war und kein Wort sprach, hin und her.
Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: "Lassen
Sie sofort den Herrn los!" Die zwei gehorchten widerstrebend.
"Da sind Sie ja", meinte Fabian und gab dem Bettler die Hand. "Es tut
mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt hat.
Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch." Er führte den Mann, der
nicht wußte, wie ihm geschah, in seine Ecke, hieß ihn Platz
nehmen und fragte: "Was möchten Sie essen? Wollen Sie ein Glas Bier
trinken?"
"Sie sind sehr freundlich", sagte der Bettler. "Aber ich werde Ihnen
Ungelegenheiten machen."
"Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas aus."
"Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und
hinausschmeißen."
"Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu
sitzen? Sie sind ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends
durch die Tür läßt."
"Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber", sagte
der Mann. "Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die
Fürsorge. Mein Magen ist krank vom vielen Kaviar."
"Was sind Sie von Beruf?"
"Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war ich
auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das einzige, was ich noch nicht
erlebt habe, ist der Selbstmord. Aber das läßt sich nachholen." Der
Mann saß auf der Stuhlkante und hielt die Hände zitternd vor den
Westenausschnitt, um das dreckige Hemd zu verbergen. Fabian wußte
nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im Kopf, viele Sätze. Keiner war
am Platz. Er stand auf und sagte: "Einen Augenblick, der Kellner wünscht,
von einer Abordnung geholt zu werden." Er lief nach dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn durchs Lokal.
Der Bettler war fort.
"Ich zahle morgen!" rief Fabian, stürzte aus dem Café und sah sich um.
Der Mann war verschwunden.
"Wen suchen Sie denn?" fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer.
Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: "So ein
Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt gewonnen. Schmalnauer hat wie ein
Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk
will morgen früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es
schlief."
"Sie sind doch ein politischer Redakteur", entgegnete Fabian.
"Dachstuhlbrände gibt's auf jedem Gebiet", sagte Münzer. "Gerade
nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sie was, kommen Sie
mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an."
Münzer stieg in seinen kleinen Privatwagen. Fabian setzte sich neben
den Redakteur. "Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?" fragte er.
"Ich hab es unserm Handelsredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding zu
teuer", erklärte Münzer. "Er ärgert sich immer so schön, wenn er mich in
sein ehemaliges Prachtstück klettern sieht. Das ist der Spaß schon
wert. Wissen Sie, daß Sie auf eigenes Risiko mitfahren? Sollten Sie
sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung."
Dann fuhren sie los.
DRITTES KAPITEL
Vierzehn Tote in Kalkutta
Es ist richtig, das Falsche zu tun
Die Schnecken kriechen im Kreis
Der Korridor war leer. In der Handelsredaktion brannte Licht, es
saß jemand im Zimmer, die Tür stand offen. "Schade, daß Malmy
schon im Haus ist", sagte Münzer verstimmt. "Nun hat er sein Auto wieder
nicht gesehen. Moment. Mal horchen, was sich in der Weltgeschichte tut."
Er riß eine Tür auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an
einer Zimmerwand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne, die
Stimmen der Stenotypistinnen. "Was Wichtiges?" schrie Münzer in den Lärm
hinein.
"Die Rede des Reichskanzlers", antwortete eine Frau.
"Richtig", sagte der Redakteur. "Der Kerl schmeißt mir mit seiner
Quasselei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text vollständig
vor?"
"Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!" "Sofort m die Maschine
damit, dann zu mir!" kommandierte Münzer, schlug die Tür zu und führte
Fabian in die Räume der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte
er auf den Schreibtisch. "Schauen Sie sich die Bescherung an! Erdbeben aus
Papier!" Er wühlte in dem Haufen neu eingegangener Meldungen, schnitt mit
einer Schere, wie ein Zuschneider, einiges ab und legte es beiseite. Den
Rest warf er in den Papierkorb. "Marsch, ins Körbchen", sagte er dabei. Dann
klingelte er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel mit
zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mit einem
aufgeregten jungen Mann zusammen, der herein wollte. "Der Chef hat eben
angerufen", erzählte der junge Mann atemlos. "Ich muß im Leitartikel
fünf Zeilen streichen. Sie wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme
gerade aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen lassen."
"Sie sind ein Tausendsassa", erklärte Münzer. "Ich mache bekannt:
Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich, Irrgang ist der
Künstlername. Herr Fabian." Die beiden gaben einander die Hand.
"Aber", sagte Herr Irrgang betreten, "nun sind doch in der Spalte fünf
Zeilen frei."
"Was tut man m einem so außergewöhnlichen Fall?" fragte Münzer.
"Man füllt die Spalte", erklärte der Volontär. Münzer nickte. "Steht
nichts im Satz?" Er wühlte in den Bürstenabzügen. "Ausverkauft", erklärte
er. "Sauregurkenzeit."
Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und
schüttelte den Kopf.
"Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein", schlug der junge Mann
vor.
"Sie hätten Säulenheiliger werden sollen", sagte Münzer. "Oder
Untersuchungsgefangener, oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine
Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sie mal auf!" Er
setzte sich hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab
das Blatt dem jungen Mann. "So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn's nicht
reicht, ein Viertel Durchschuß."
Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz leise:
"Allmächtiger Vater" und setzte sich, als sei ihm plötzlich schlecht
geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen knisternden Berg
ausländischer Zeitungen.
Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs Hand
zitterte, und las: "In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen
Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation
sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe
ist vollkommen wiederhergestellt." Ein alter Mann schlurfte m Pantoffeln ins
Zimmer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer hin.
"Kanzlerrede, Fortsetzung", murmelte er. "Den Schluß geben sie in zehn
Minuten durch." Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs
Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein
mittelalterliches Spruchband aussahen, dann begann er zu redi-gieren. "Mach
hurtig, Jenny", sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
"Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden",
entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte
fassungslos: "Vierzehn Tote."
"Die Unruhen haben nicht stattgefunden?" fragte Münzer entrüstet.
"Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen
statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange
wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit
nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun
entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie martern und der
Stadtausgabe beilegen." Der junge Mann ging.
"Und so was will Journalist werden", stöhnte Münzer und strich
aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des Reichskanzlers herum.
"Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt's
aber leider nicht."
"Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere
ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?" fragte Fabian.
Münzer bearbeitete den Reichskanzler. "Was soll man machen?" fragte er.
"Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle
sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber,
was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen." Und
dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus.
"Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als
durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine
noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die
öffentliche Meinungslosigkeit."
"Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein", meinte Fabian.
"Und wovon sollen wir leben?" fragte Münzer. "Außerdem, was
sollen wir statt dessen tun?"
Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer
schenkte ein und hob sein Glas. "Die vierzehn toten Inder sollen leben!"
rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. "Einen
Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!"
erklärte er. "Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser,
in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda
kriegte er dafür die Drei." Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Und
wie überschreibt man den Scherzartikel?"
"Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben", sagte Fabian
ärgerlich.
Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte
hinter und antwortete: "Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung,
der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegenschreiben,
schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung."
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte Fabian. "Schreiben Sie dafür!"
"O nein", rief Münzer. "Wir sind anständige Leute. Tag, Malmy."
Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.
"Sie dürfen ihm nichts übelnehmen", sagte der Handelsredakteur zu
Fabian. "Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er
lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft
Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten." Der alte Bote brachte wieder
Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte
das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter. "Sie
mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?" fragte Fabian Herrn Malmy.
"Was tun Sie außerdem?"
Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. "Ich lüge
auch", erwiderte er. "Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das
System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich
diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems,
dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen
Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind
begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und
ich bin außerdem ..."
"Ein Zyniker", warf Münzer ein, ohne aufzublicken. Malmy hob die
Schultern. "Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein
Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das
aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen."
Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach mit Münzer an
Hand der Postauflage, welche Meldungen sie aus dem Blatt werfen und welche
sie statt dessen in die Stadtausgabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat
zwei Dachstuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebulose
Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen galten. Den
ostelbischen Großgrundbesitzern waren vom Landwirtschaftsminister
Zollerhöhungen in Aussicht gestellt worden. Die Untersuchung gegen die
Direktoren des Städtischen Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende
Wendung erfahren.
"Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?" fragte Münzer.
"Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine gute Schlagzeile. Die Sache
muß in Satz. Wenn die Matern zu spät kommen, kriegen wir wieder Krach
mit dem Maschinenmeister."
Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine Stirn
schwitzte. "Der Kanzler fordert Vertrauen", schlug er vor.
"Mäßig", urteilte Münzer. "Nehmen Sie sich ein Wasserglas, und
trinken Sie erst einen Schluck Wein!" Der junge Mann befolgte den Rat, als
sei er ein Befehl. "Deutschland oder die Trägheit des Herzens", sagte Malmy.
"Reden Sie keinen Unsinn!" rief der politische Redakteur. Dann schrieb
er eine Zeile groß mit dem Bleistift über das Manuskript und erklärte:
"Der Groschen gehört mir." "Was haben Sie denn geschrieben?" fragte Fabian.
Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte pathetisch:
"Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!" Der Bote holte die Papiere. Der
Handelsredakteur griff in die Tasche und legte wortlos ein Zehnpfennigstück
auf den Schreibtisch.
Sein Kollege blickte verwundert hoch.
"Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig wird",
behauptete Malmy.
"Um welche Aktion handelt es sich?"
"Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten", sagte Malmy, und
Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Grenzen. Dann stürzte er ans
Telefon. Es hatte geläutet. "Ein Abonnent möchte etwas wissen", bekundete er
nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. "Sie sitzen am
Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe heißt."
Münzer nahm ihm den Hörer weg. "Einen Augenblick", sagte er. "Wir sagen
Ihnen sofort Bescheid, mein Herr." Dann winkte er Irrgang und flüsterte:
"Feuilleton."
Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln.
"Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte
schön. Guten Abend." Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüttelte den
Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der Nähe
des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich von einem Setzer, der
nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung
sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile
auf der ersten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der
Theaterkritiker, an den Tisch gekommen. Nun tranken sie fleißig.
Irrgang, der junge Mann, war schon fast hinüber. Strom, der Kritiker,
verglich einige namhafte Regisseure mit Schaufensterdekorateuren, das
Theater der Gegenwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramatiker, behauptete
Strom, es gebe welche.
"Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig,
und Strom lachte ohne Anlaß.
Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens werden Reich und Wirtschaft
in wachsendem Maße überfremdet", behauptete der Redakteur. "Zweitens
genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in
großen Posten abgerufen wird, sacken wir alle ab, die Banken, die
Städte, die Konzerne, das Reich."
"Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang.
"Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gigantische
Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dummheit." Malmy musterte den
jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter
im Anzug." Irrgang legte den Kopf auf den Tisch. "Werden Sie
Sportredakteur", riet Malmy. "Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt
nicht so große Anforderungen." Der Volontär stand auf, schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. "Ich bin ein
Schwein", murmelte er.
"Eine ausgesprochen russische Atmosphäre", stellte Strom fest.
"Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen
und streichelte dem Politiker die Glatze.
"Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei.
Malmy lächelte Fabian zu. "Der Staat unterstützt den unrentablen
Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindustrie. Sie liefert
ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb
unserer Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu
teuer; der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den Schwund
der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht aufzubürden
wagt; das Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das
etwa nicht konsequent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!"
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer und fing mit vorgeschobener
Unterlippe die Tränen auf.
"Sie überschätzen sich, Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer
zog, während er weiter weinte, ein gekränktes Gesicht. Er war entschieden
beleidigt, daß man ihn darin hindern wollte, das zu sein, wofür er
sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt.
Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären. "Die Technik
multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbeitsheer. Die
Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika
verbrennt man Getreide und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In
Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor. Die Menschen sind verzweifelt, weil der Boden zu viel
trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine
Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen
Witterungsverhältnisse begraben lassen." Malmy stand auf, wankte ein wenig
und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.
"Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten. Wer dagegen
ist, stehe auf."
Münzer erhob sich mühsam.
"Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal."
Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.
Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball
heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe
die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser
äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur
heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem
Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten
und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche
Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist."
"Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!" rief
Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen."
"Lassen wir die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy. "Wir werden
nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders
niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige von diesen und jenen
mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an
der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen,
daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern.
"Wozu sind die anderen da?", denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl.
Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig
ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung
nimmt keinen Anfang."
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor
den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
"Der Blutkreislauf ist vergiftet", rief Malmy. "Und wir begnügen uns
damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen,
ein Pflaster zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es
nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern
bepflastert, kaputt!"
Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und
sah den Redner bittend an.
"Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy.
"Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein
Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige
Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!"
"Es ist der Geist, der sich den Körper baut", behauptete Münzer und
warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende
Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den
Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden, es gebe
ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts
oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem
Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die
Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das
heißt, die Therapie zu weit treiben."
Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte
das Weite.
Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den
Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er m die
verkehrte Richtung: "Mediziner hätten Sie werden sollen." Dann plumpste er
wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er
brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!"
Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war auch ein Schwein." Dann
weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen.
"Einfach lächerlich", knurrte er. "Geistige Erneuerung, Trägheit des
Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja
gelacht, wäre das ja!"
Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Eine Frau, die
ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: "Aber wo
kriegen wir denn das Geld her, Arthur?"
"Hab ich dich gefragt?" schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann
beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am
Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl."
Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: "Habe ich recht? Wegen
solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke nicht daran. Es wird
weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun."
Münzer hatte sich's bequem gemacht, lag auf dem Sofa und schnarchte
schon, obwohl er noch gar nicht schlief.
"Und Ihr Auto habe ich doch", grunzte er und drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher
und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol",
erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz.
"Ein Kriegsprodukt", sagte Strom. "Eine bedauernswerte Generation."
Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten
Dinge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie
unglaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in seinem Pathos von
der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier, Fabian hätte plötzlich an der
Richtigkeit der Rechnung gezweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und
betrachtete Malmy. Der saß steil auf dem Stuhl und war mit dem Blick
sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen Ruck, sah
Fabian an und sagte: "Man sollte sich mehr zusammennehmen. Schnaps
zerfrißt den Maulkorb."
Fabian erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem
Handelsredakteur.
"Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig.
"Ich bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor der Tür
stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen
glauben machen will, man spüre die Umdrehungen der Erde. Die Bäume und
Häuser stehen noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als
Zwillinge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es einmal! Doch
heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat,
als kennten sie einander nicht. Was war das für eine komische Kugel, ob sie
sich nun drehte oder nicht! Er mußte an eine Zeichnung von Daumier
denken, die "Der Fortschritt" hieß. Daumier hatte auf dem Blatt
Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war
das Schlimmste.
VIERTES KAPITEL
Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom
Frau Hohlfeld ist neugierig
Ein möblierter Herr liest Descartes
Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem hatte er
einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit damit, daß er
zunächst frühstückte.
"Wo nehmen Sie bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian.
"Sie verdienen weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein
Sparkonto. Und dabei essen Sie derart viel, daß ich davon mit satt
werde."
Fischer kaute hinter. "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte er.
"Wir Fischers sind dafür berühmt."
"Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen.
Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. "Bevor ich's vergesse,
Kunze hat eine Inseratensene gezeichnet, zu der wir gereimte Zweizeiler
liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher."
"Ihr Zutrauen ehrt mich", sagte Fabian, "aber ich habe noch mit den
Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun. Dichten Sie inzwischen
ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen und Ihrer werten Familie das
Frühstücken, wenn sich's nicht reimt?" Er sah durchs Fenster, zur
Zigarettenfabrik hinüber, und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt
auf den Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken an
der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und starrte das Plakat
an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller
daneben errichteten, dem Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette
bedeckt war. Er notierte: "Nichts geht über ... So groß ist ...
Turmhoch über allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl
er nicht einsah, wozu.
Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung an.
"Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor."
"Schon möglich", sagte Fabian.
"Was fangen Sie an", fragte der andere, "wenn man Sie hier vor die Tür
setzt?"
"Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht,
gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege,
suche ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir
nicht mehr an."
"Erzählen Sie mal was von sich", bat Fischer. "Während der Inflation
hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte
jeden Tag zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute
wußten, wie groß ihr Kapital war."
"Und dann?"
"Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft."
"Warum gerade einen Grünwarenladen?"
"Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Doktor Fabians
Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, zogen wir mit einem
wackeligen Handwagen in die Markthalle."
Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?"
"Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt
als Adressenschreiber angestellt war."
"Wie hieß denn Ihre Dissertation?"
"Sie hieß "Hat Heinrich von Kleist gestottert?" Erst wollte ich
an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans Sachs
Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange. Genug,
dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem Plakat auf und ab. Fischer
schielte neugierig zu ihm hin. Doch er wagte nicht, das Gespräch zu
erneuern. Seufzend drehte er. sich im Stuhl herum und musterte seine
Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration vertrauend, die
Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier.
Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort."
Und zu Fabian meinte er: "Ihr Freund Labude." Fabian nahm den Hörer.
"Tag, Labude, was gibt's?"
"Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund.
"Ich habe aus der Schule geplaudert."
"Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?"
"Ich komme."
"In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen, Labude." Er hängte ab. Fischer hielt ihn am Ärmel
fest.
"Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen Sie ihn
eigentlich nie beim Vornamen?"
"Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen,
ihm einen zu geben."
"Er hat überhaupt keinen Vornamen?"
"Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich einen
beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht."
"Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt.
Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: "Sie merken
alles." Dann widmete er sich von neuem dem Kölner Dom, schrieb ein paar
Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf.
"Sie können sich mal ein kleines, hübsches Preisausschreiben
ausdenken", meinte der Direktor. "Ihr Prospekt für Detailhändler hat uns
ganz gut gefallen."
Fabian verbeugte sich leicht.
"Wir brauchen etwas Neues", fuhr der Direktor fort. "Ein
Preisausschreiben oder etwas Ähnliches. Es darf aber nichts kosten,
verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich geäußert, er müsse
den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte reduzieren. Was das für Sie
bedeuten würde, können Sie sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die
Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie
möglich, 'n Morgen."
Fabian ging.
Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen,
Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er einen Brief von seiner
Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er nicht. Das warme Wasser war kalt. Er
wusch sich nur, wechselte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den
Brief seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten Etage übte
jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat seine
Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge!
Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt, es
ist nichts Schlimmes. Es wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt bei
älteren Leuten öfter vor. Mach Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war
erst sehr nervös. Aber nun wird es schon wieder werden mit dem alten
Lehmann. Gestern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne
haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee,
so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase
sagte im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich.
Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den Karton zur Post.
Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht
kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie
hat eben ein Stück Gurgel gefressen, und nun stößt sie mich mit dem
Kopf und will mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie
vergangene Woche, Geld m den Brief steckst, reiße ich Dir die Ohren
ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn
wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu machen? Die Drucksachen, die
Du schicktest, haben mir gut gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein
Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht
seine Schuld. Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der
kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein fällt.
Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur ein Übergang. Der Vater hat
halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er geht
ganz krumm. Tante Martha brachte gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten.
Die Hühner legen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur
nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte.
Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach Hause kommen
könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind
und hat eigentlich keins. Die paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am
liebsten setzte ich mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher
war das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich mir die
Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack
nahmen und loszogen? Einmal kamen wir mit einem ganzen Pfennig zurück. Da
muß ich gleich lachen, während ich dran denke.
Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten wird es wohl
nicht werden. Gehst Du immer noch so spät schlafen? Grüß Labude. Und
er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater
läßt grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter."
Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hinunter.
Warum saß er hier in diesem fremden gottverlassenen Zimmer, bei der
Witwe Hohlfeld, die das Ver-mieten früher nicht nötig gehabt hatte? Warum
saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser
Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen
Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als
bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren
worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus
drehe sich nur, solange er ihm zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis,
anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten,
ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zusehen und
ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren
fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel
der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich
dachte, Sie wären noch nicht da." Sie kam näher. "Haben Sie gestern nacht
den Krach gehört, den Herr Tröger veranstaltet hat? Er hatte wieder
Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das
noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern
Zimmer wohnt?"
"Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen."
"Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!"
"Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem
gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur
Moral der Vermieterinnen stehen."
Die Wirtin wurde ungeduldig. "Aber er hatte mindestens zwei
Frauenzimmer bei sich!"
"Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird sein, Sie
teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn
er sich nicht danach richtet, lassen wir ihn von der Sittenpolizei
kastrieren."
"Man geht mit der Zeit", erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und
rückte noch näher. "Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an.
Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt."
Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr
unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn
wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen
Füßen, vor dem Zimmer des Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs
Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese
Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie
keine Kinder haben."
"Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum
Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand,
hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte,
als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet
hatte es fast nie. Er griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die
Grundlagen der Philosophie", so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre
waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in der
mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter
eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild
gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War das alles, was er
von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er,
mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore
spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann
durchgefallen und nach Amerika gegangen.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm
mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend
auf als wahr hingenommen hatte, und wie zweifelhaft alles sei, was ich
später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben
von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend
etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine
ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für
wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so
lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die
Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich
habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die
Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller
meiner Meinungen unternehmen."
Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen nach,
die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kaiser-allee entlang fuhren, und
schloß vorübergehend die Augen. Dann blätterte er und überflog die
Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war Descartes alt gewesen, als er seine
Revolution ankündigte. Am Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein
bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl, mit immensem Schädel. "Von allen
Sorgen frei." Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm
Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog den Mantel an.
Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem Reisenden mit dem starken
Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte.
Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten davon.
Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die noble Verwandtschaft,
die Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und
hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
"Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian.
"Danke, gut", sagte Labude und trank den Kognak, der vor ihm stand.
"Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen."
"Und wie befindet sich das Fräulein Braut?"
"Davon später."
"Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?"
"Nein. Er hatte keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift
gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich ein
und trank. "Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du aus
Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes
rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf
dargestellt und noch nie verstanden haben."
"Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines
toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und
individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen
zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst
verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern
werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe
ich diesen Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine
Beschäftigung für einen erwachse-nen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!"
Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude
blickte vor sich hin. "Heute morgen war ich dabei, wie sie in der
Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Einen Sinologen. Er hat seit
einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek gestohlen und verkauft.
Er wurde blaß wie eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich
erst mal auf die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er
abtransportiert."
"Der Mann hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian. "Wozu lernt er erst
Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt? Es steht schlimm.
Jetzt räubern schon die Philologen."
"Trink aus und komm!" rief Labude.
Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche
Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
"Wir fahren zu Haupt", sagte Labude.
FÜNFTES KAPITEL
Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett
Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
Frau Moll wirft mit Gläsern
In Haupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punkt zehn Uhr
stiegen, im Gänsemarsch, zwei Dutzend Straßenmädchen von der Empore
herunter. Sie trugen bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe
mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht
des daniederliegenden Gewerbes nicht zu verachten. Die Mädchen tanzten
anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten.
Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an
der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter und Einzelhändler. Der
Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah.
Die dicksten und frechsten Frauenzimmer wurden bevorzugt. Die Weinnischen
waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lippenstift. Die
Orgie konnte beginnen. Labude und Fabian saßen an der Rampe. Sie
liebten dieses Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild
ihres Tischtelefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat surrte. Man
wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel und legte ihn unter
den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik,
das Gelächter und der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten
ihnen nichts anhaben.
Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von
der verfressenen Familie Fischer und vom Kölner Dom. Labude blickte den
Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen."
"Ich kann doch nichts."
"Du kannst vieles."
"Das ist dasselbe", meinte Fabian. "Ich kann vieles und will nichts.
Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an, ich
sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren
kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn."
"Doch, man verdient beispielsweise Geld."
"Ich bin kein Kapitalist." "Eben deshalb." Labude lachte ein
bißchen.
"Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein
pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld
anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich
Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist
überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen?
Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein
Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, ich will keinen
Mehrwert."
Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es
nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen."
"Was fang ich mit der Macht an?" fragte Fabian. "Ich weiß, du
suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu
sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind
sie nicht verwandt."
"Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden." "Wer tut das?
Dieser wendet sie für sich an, jener für seine Familie, der eine für seine
Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der fünfte
für solche, die über zwei Meter groß sind, der sechste, um eine
mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld
und Macht!" Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war
gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.
"Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte
dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein
Lebensziel einpflanzen!" Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand
auf den Arm des Freundes.
"Ich sehe zu. Ist das nichts?"
"Wem ist damit geholfen?"
"Wem ist zu helfen?" fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst,
träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital
kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen,
einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und
ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen!
Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein
Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig
und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre
diesbezügliche Eignung hin anzuschauen."
Labude hob sein Glas und rief: "Viel Vergnügen!" Er trank, setzte ab
und sagte: "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden
sich die Menschen anpassen."
Fabian trank und schwieg.
Labude fuhr erregt fort: "Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich
siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren
vollkommenen Ziel anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich
verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz,
das ist das Schlimme."
"Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen
begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie
wären ehrgeizig!"
Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war
dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die
andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme
Beine. "Schenkt uns 'ne Zigarette", sagte die Blonde. Fabian hielt die
Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen
Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit
verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das."
"Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke.
Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben,
alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand
war mit der Pfalz bei Caub bemalt. Fabian dachte an Blücher, Labude
bestellte Likör. Die Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten
sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde
den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die
Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und
kicherte blöde. "Oben sind Nischen", sagte sie, strich die blauen
Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher haben Sie so
rauhe Hände?" fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. "Nicht, was du
denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei.
"Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet", sagte die
Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste,
bis die Brustwarzen groß und fest wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?"
fragte sie.
"Ich bin überall rasiert", erläuterte die Magere und war nicht
abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam von dem
äußersten zurück.
"Man schläft nachher besser", sagte die Blondine zu Fabian und reckte
die fetten Beine.
Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als
hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An
der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der
Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte
eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
"Oben sind Nischen", sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf.
Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor
den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten drauflos.
Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich
mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und Finger und
lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt.
"Der erste Preis ist eine große Bonbonniere", erklärte die
kauende Paula, "und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim
Geschäftsführer wieder abliefern."
"Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick",
sagte die Blondine. "Dabei sind dicke Beine das beste, was es gibt. Ich war
einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt
Ansichtskarten."
"Quatsch!" knurrte Paula. "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen
Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias
Freund hat einen Buckel, und sie sagt, sie braucht das zum Leben. Da mach
was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram."
"Gelernt ist gelernt", behauptete die Dicke und angelte das letzte
Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur
ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte
der Siegerin eine große Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt,
verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück.
"Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?"
fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll.
Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und
erzählte: "Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich
abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte
ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er
glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse
fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging
ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!"
rief Labude.
"Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das
auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und
aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in
den Mund."
"Es ist furchtbar", sagte Labude zu Fabian, "es ist schrecklich, wie
viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen."
Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre,
und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse."
Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff
seine Hand und legte sie platt auf ihren satten Magen. Labude und Paula
tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme:
"Die Liebe ist ein Zeitvertreib.
Man nimmt dazu den Unterleib."
Die Dicke sagte: "Die nebenan ist 'ne Marke. Sie gehört gar nicht
hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter trägt sie was ganz
Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar
verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische, bezahlt für sie und
gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über
die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan.
Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große
gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen
Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. "Kerl!" rief
sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!" Aber
der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte
ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel
Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein
Sektglas und taumelte zur Brüstung.
Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren
Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob
das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem
Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben
erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf.
Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer nennt sich das! Wenn
man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich
schlage vor, die Bande einzusperren. Meine sehr verehrten Damen, wir
brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!" Sie schlug sich
emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im Saal wurde
gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu
weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen
liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns singen!" schrie sie schluchzend und
schluckend. "Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!" Sie breitete
beide Arme aus und brüllte:
"Auch der Mensch ist nur ein Tier,
Immer, und erst recht zu zweit,
Komm und spiel auf mir Klavier!
Komm und spieleee auf mir
Die Schule der Geläufigkeit.
Dazu bin ich ja..."
Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die
Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden
Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und wollte zu
ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und der
Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde
wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab
Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
In der Garderobe fragte er: "Sie kennt dich wirklich?" "Ja", sagte
Fabian, "sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede
Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe
ich noch in der Tasche. Hier sind sie."
Labude nahm die Schlüssel weg, rief: "Ich komme gleich wieder!" und
lief in Hut und Mantel zurück.
SECHSTES KAPITEL
Der Zweikampf am Märkischen Museum
Wann findet der nächste Krieg statt?
Ein Arzt versteht sich auf Diagnose
Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du
mit dieser Verrückten etwas gehabt?"
"Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus.
Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein,
ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen
ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich."
"Warum nahmst du die Schlüssel mit?"
"Weil die Haustür verschlossen war."
"Ein schauderhaftes Weib", sagte Labude. "Sie hing besoffen überm
Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche."
"Sie hat dir nicht gefallen?" fragte Fabian. "Sie ist doch sehr
eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt
so wunderbar unpassend."
"Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim
Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine
Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr
Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne
Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein
Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt
brannte der Himmel.
"Lieber Stephan", sagte Fabian leise, "es ist rührend, wie du dich um
mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du
mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen
Direktorposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich
lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht
gelingen." Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck,
trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des
Freundes. "Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig
zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe
Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund.
Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir
wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben
Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir
es taten oder unterlie-ßen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen
wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich
die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus
Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten
nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir
glaubten, es sei die Henkersmahlzeit."
Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian
ging hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. "Erinnerst du
dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich
bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind
einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch
über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und
die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit
sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß
gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin
tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich
saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht
Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was
aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir
wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir
nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein
Ende!"
"Zum Donnerwetter!" rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie
stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der
Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe
nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln."
"Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und
die Gerechten noch weniger."
"So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen
am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?"
In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei
und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel,
die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel
Spaß!" sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte,
obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.
Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem
Revolver und brüllte: "Warte nur, du Schwein!" Und dann schoß er
wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne
zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der
Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?"
"Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger
stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. "So ein Mistvieh", brüllte er.
"Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit.
"Quer durch die Wade", stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein
Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband.
"Drüben in der Kneipe ging's los", lamentierte der Verwundete. "Er
schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich
knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl
lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da
schoß er schon."
"Sind Sie nun wenigstens überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den
Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der
Schußwunde hantierte.
"Die Kugel ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar
kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf."
"Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest.
"Der hätte mir gerade noch gefehlt!" Der Verletzte versuchte
aufzustehen. "Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so
unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu
lassen."
Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem
Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die
Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang.
In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur
den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre.
Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam.
Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals.
Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser
verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu
haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der
Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer
verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit
furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor
nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein,
durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher
spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte
lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war
das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich
schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen
Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes!
Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten
sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie
zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern
und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun
fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der
irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu
Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im
Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's
schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?
Plötzlich rief jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den
Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und
preßte seine Hand aufs Gesäß.
"Was ist denn mit Ihnen los?"
"Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt."
Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen
Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit.
"Entschuldigen Sie", rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht gerade
höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die
Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag
wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht."
"Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über
die Straße.
"Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells
mit einem Steckschuß im Allerwertesten."
Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten
ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten
hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus
zu bringen.
Das Auto fuhr los.
"Tut's sehr weh?" fragte Labude.
"Es geht", antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und
musterten sich finster.
"Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als
der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe
aus.
"Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist.
"Du Untermensch!" rief der eine.
"Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche.
Labude faßte sein Handgelenk. "Geben Sie den Revolver her!"
befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte
sie ein.
"Meine Herren", sagte er. "Daß es mit Deutschland so nicht
weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man
jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu
verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem
hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten
Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins
Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes
erreicht. Ihre Partei", er meinte den Faschisten, "weiß nur, wogegen
sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei", er
wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..."
"Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser,
"und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein
Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort."
Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf
der heilen Sitzfläche und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des
Gegners zu stoßen.
"Das Proletariat ist ein Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der
größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure
Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich
die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift.
Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der
Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut
und klug, bloß weil man arm ist."
"Unsere Führer..." begann der Mann.
"Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude.
Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der
Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem
Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand.
"Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind
insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren
Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon
aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um
Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen
den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um
Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie
wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen.
Merkwürdige Art von Selbsthilfe."
"Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian.
"Ja, natürlich." Der Arzt nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus.
Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben
Sie wohl!" Das Portal schloß sich.
Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen
schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann
jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ms Kabarett der
Anonymen."
"Was ist das?"
"Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte
aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar
Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen.
Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein.
Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber
freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie
selber."
Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus
zurück, über dem der Große Bär funkelte.
"Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und sie wird jeden
Tag größer."
SIEBENTES KAPITEL
Verrückte auf dem Podium
Die Todesfahrt von Paul Müller
Ein Fabrikant in Badewannen
Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der
einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der
Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian
traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem
überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes
Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein
giftgrünes selbstge-schneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen
und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft.
Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten
Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war
nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein,
unterhielt sich laut und lachte.
"Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!" schrie ein
glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten
noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel
auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem
Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch
nicht aus. "Mutter, dein Kind ruft!" kreischte eine Dame, die ein Monokel
trug.
"Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch.
Die Dame drehte sich um. "Ich habe keine Kinder." "Da können Sie aber
lachen!" rief man aus dem Hintergrund.
"Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf.
Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine wehtun
mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in
einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und
breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut!
Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!"
Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und
wieder.
Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig
sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
"Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den
Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er.
Der Herr nickte.
"Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!" sagte
Caligula. Man applaudierte. Der Mann m der ersten Tischreihe wurde rot.
Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula
und hob die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht geradezu
ein Erlebnis?"
"Jawohl", brüllten alle.
"Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul
Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller
spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine
Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul
Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine
Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn
ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind."
"Das geht entschieden zu weit!" rief ein Besucher, dessen Gesicht mit
Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört
das Jackett straff. "Hin-setzen!" sagte Caligula und verzog den Mund.
"Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!"
Der Akademiker rang nach Luft.
"Im übrigen", fuhr der Kabarettinhaber fort, "im übrigen meine ich
Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum."
Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der
Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt.
Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und
rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann ver-schwand er.
Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser
Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man.
"Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand.
Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht,
fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er
sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie
weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte: "Die
Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor.
"Fall nicht runter!" rief die Dame, der von Caligula eigentlich
befohlen worden war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz
noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und
begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller."
"Das war der Graf von Hohenstein.
Der sperrte seine Tochter ein.
Sie liebte einen Offizier.
Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!"
In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein Stück
Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte den Zucker ein
und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort:
"Da half nur Flucht, und die Komteß
entfloh in ihrem zehn PS.
Sie steuerte durch Nacht und Not.
Doch auf dem Kühler saß der Tod!"
Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste
in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste
folgten dem Beispiel, und allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement
zustande, dem Müller dadurch zu begegnen wußte, daß er sich
dauernd bückte.
Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen. Auch mit
aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zufliegenden Zucker
aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine Stimme klang immer
schwärzer. Man entnahm der Rezitation, daß in jener schrecklichen
Nacht nicht nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier
zu gelangen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen unterwegs
war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während
sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei Liebenden die gleiche
Landstraße benutzten, da es sich ferner um eine ausgesprochen
regnerische, neblige Nacht handelte, und da das Gedicht "Todesfahrt"
hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß
die beiden Autos zusammen-stoßen würden. Paul Müller beseitigte auch
den letzten Zweifel darüber.
"Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem Schädel!"
brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten.
"Das Auto jenes Offiziers
kam links gefahren, rechts kam ihrs.
Der Nebel war entsetzlich dick.
Und so vollzog sich das Geschick.
Von links ein Schrei,
von rechts ein Schrei - "
"Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die Leute johlten und
klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der
Tragödie nicht länger neugierig.
Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte.
Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden unter. Da
packte den dürren Balladendichter die blasse Wut. Er sprang vom Podium und
rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus
dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein
Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß er in den
Stuhl zurücktaumelte.
Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem knirschenden
Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins
Künstler-zimmer.
"Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte."
"Dieser Sport ist international", meinte Fabian, "in Paris gibt es
dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich
eine riesengroße hölzerne Hand aus der Kulisse und schaufelt den
Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!"
"Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar in der
römischen Geschichte." Labude stand auf und ging. Er hatte genug. Auch
Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand derb auf die Schulter. Er drehte
sich um. Der Mann strahlte über das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter
Junge, wie geht's dir denn?"
"Danke, gut."
"Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzusehen!" Der
Akademiker gab Fabian einen Freuden-stoß vor den Brustkasten, genau
auf einen der Hemdknöpfe. "Kommen Sie", meinte Fabian, "prügeln wir uns
draußen weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in
den Vorraum. "Mein Lieber", sagte er zu Labude, der sich den Mantel anzog,
"wir wol-len schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie
nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät.
Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige Frau vor sich
her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst du, Meta,
der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und zu Fabian sagte er: "Das ist
meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben
in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft
meines Schwiegervaters. Wir machen Badewannen. Wenn du mal eine brauchen
solltest, kannst du sie zum Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut.
Danke, glückliche Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer
Garten dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber noch
nicht lange."
"Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den
Händen, wie klein das Kind war. "Es wird schon noch wachsen", tröstete
Labude. Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
"Also, alter Schwede", fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was
du die ganze Zeit über gemacht hast."
"Nichts Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich bastle ich an
einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen."
"Ausgezeichnet", rief der Mann, der in die Badewannen eingeheiratet
hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?"
"Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr", sagte
Fabian. "Ein Brüderchen habe ich mir schon lange gewünscht. Nur eine
bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?"
"In Marburg natürlich."
Fabian hob bedauernd die Schultern. "Es soll eine bezaubernde Stadt
sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht."
"Dann entschuldigen Sie vielmals", knarrte der andere. "Kleine
Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut." Er knallte die
Absätze zusammen, befahl: "Komm, Meta!" und entfernte sich. Meta blickte
Fabian verlegen an, nickte Labude zu und folgte dem Gemahl. "So ein
dämlicher Affe!" Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut
familiär. Ich habe diesen Caligula im Verdacht, daß die Anpöbelei zu
seiner Kabarettregie gehört."
"Das glaube ich nicht", meinte Labude. "Die Badewannen waren sicher
echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie gingen heimwärts. Labude
schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er nach einer
Weile. "Dieser gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen
Beruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und unsereins
vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land, man hat noch keinen festen
Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal
eine feste Freundin."
"Du hast doch Leda."
"Und was mich besonders aufbringt", fuhr Labude fort, "so ein Kerl hat
ein eigenes, selbstgemachtes Kind."
"Sei nicht neidisch", sagte Fabian, "dieser juristisch vorgebildete
Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von den Leuten, die heute
dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der
andere verliert morgen seine Stellung. Der dritte hat noch nie eine gehabt.
Unser Staat ist darauf, daß Generationen nachwachsen, momentan nicht
eingerichtet. Wem es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau
und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere
mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig. Ich weiß nicht,
von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn
der Quatschkopf noch leben sollte, dann wünsche ich ihm zweihundert Mark
monatlich und eine achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch
acht dividieren, bis er schwarz wird." Fabian sah den Freund von der Seite
an. "Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld. Und
wenn du die Venia legendi hast, wirst du noch ein paar Groschen
dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts
mehr im Wege."
"Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den ökonomischen",
sagte Labude, blieb stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn
ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen?
Ich muß dir verschiedenes erzählen." Er drückte dem Freund etwas in
die Hand und stieg in den wartenden Wagen.
"Handelt es sich um Leda?" fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude
nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen
nach. "Ich komme!" rief er. Doch das Auto war schon weit weg, und das rote
Schlußlicht konnte ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und
stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.
ACHTES KAPITEL
Studenten treiben Politik
Labude sen. liebt das Leben
Die Ohrfeige an der Außenalster
Labudes Eltern bewohnten im Grunewald einen großen griechischen
Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine Villa. Und eigentlich
bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf Reisen, meist im
Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano
besser als am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zarte
Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte seine Frau
sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine Zuneigung wuchs im Quadrat der
Entfernung, die zwischen ihnen lag. Er war ein bekannter Verteidiger. Da
seine Klienten viel Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele
Prozesse und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die Ruhe, die sein
Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und die vorwurfsvollen Augen
seiner Frau brachten ihn zur Verzweiflung. Da beide befürchteten, den
anderen anzutreffen, mieden beide die Villa, sooft das möglich war. Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf
die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn diese
Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Maskenball gewesen,
und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann geschildert, der sie damals
finanzierte. Leichtfertige Frauen versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam nicht gern m die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als albern.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mitten in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und er fand es, von allen anderen Gründen abgesehen, schon deshalb
vollkommen in Ordnung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum
entfremdet hatten.
"Schrecklich", sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf diesem Stuhl
hier in die Schlacht von Fehrbellin geritten ist, könnte ich mich bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
Labude winkte ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn während des Sprechens nicht
anzusehen. Sie blickten beide zum Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf
rote Villendächer. Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel,
spazierte auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehaltenem
Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück. Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. "Rassow schrieb
mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller
Richtungen, über das Thema "Tradition und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete
den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den
Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen.
Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die
kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß
die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den
kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet
wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in
absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere
Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch freiwillige Kürzung des
privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte,
diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die
Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und
außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände
einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den
Antrag zur Bildung einer radikal-bürgerlichen Initiative einbrachte, fand
das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der
an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten
eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten
Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
"Ich freue mich", sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon
mit der Gruppe der unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das
ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt
einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist
derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
"Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
"Warum denn nicht?"
"Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken der
Schreibtischplatte fest. "Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie
heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in
jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die
Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang
dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen. Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. "Natürlich
entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere
hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht,
daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich einen Kuß, geht ins Theater, fragt
nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier Wochen später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten vor
jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit
geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied,
mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen
sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an
Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die
Außenalster. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich
mich, rauchte zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die
Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog ein Taxi in die
Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte
zur Tür, schloß auf, trat ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann
gefolgt war, und schloß von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die
Stadt zurück."
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch,
ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde
wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Haus und unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die Hand. "Lange nicht gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs.
Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar
Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach
dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
"Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. "Da habt ihr's. Kleine Sängerin,
großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig.
Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor
dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge." Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins
Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch
immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben Uhr
verließ der Mensch das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb
sitzen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang vom Sofa, aber der
andere winkte ab und sagte ganz ruhig: "Schon gut. Höre weiter. Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei.
Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf Uhr kommen wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine
Tasse Tee und sprach über gleichgültige Dinge. Dann begann sie sich
automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung
scheine, wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt werden, ob man Hunger hat
oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, würde das anders. Ich
solle übrigens nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen
Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sie sei aber wieder auf dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
"Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?" fragte ich. Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
"Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief ?" fragte ich
weiter.
"Du siehst Gespenster", sagte sie. "Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern."
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her,
die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt, im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
"Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
"Mich so zu belügen."
"Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
"Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer
krank gewesen!"
"Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
"Das ist wahr", sagte Labude. "Aber ich bin schon mit ganz anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
"Wenn sie dir nun schreibt?"
"Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
"Wer ist Ruth Reiter?"
"Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr glauben darf." "Modellstehen wollte ich schon immer mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.
NEUNTES KAPITEL
Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt "Cousine"
"Endlich ein paar Männer!" rief die Reiter. "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sie hat zwei Tage
keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl hätte ihr, ohne die kleine
Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis
war's, sagte sie."
"Das sind die Schlimmsten", meinte Labude. "Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Scha-den inzwischen behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
l.abude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das
Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch
saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete. "Abendakt", erläuterte sie,
ohne sich umzudrehen. "Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken
ver-schränken. Halt!" Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich
aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich
gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
"Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut", pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor
einer weiblichen Bronze.
"Berühren verboten!" Die Stimme der Bildhauerin klang äußerst
unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter. Der Baron ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
"Halt den Rand!" knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
"Was es so alles gibt", meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Wer oben liegt, hat den
Vortritt."
"Welche tiefe Wahrheit!" rief die Kulp. "Aber einen Groschen? Du
verdirbst die Preise!"
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
"Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
"Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein
gefülltes Glas. Fabian war überrascht. "Wie viele weibliche Wesen sind
eigentlich hier?" fragte er.
"Ich bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie spazierte
wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die
Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atelierfenster auf die
Bogen und Veduten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron kommandieren.
"Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken,
Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!" Und aus der vorderen
Hälfte des Ateliers klangen kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?"
fragte Fabian.
"Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
"Das freut mich", sagte er. "Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir
anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir
trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. "Da bin ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du", und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde
ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
"Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die
Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die
Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns.
Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus
Verantwortungs-gefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu
versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen,
daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster
erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau
saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand
davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil.
Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im
Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
"Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
"Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder." Sie
schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Erlebnis noch immer nicht. "Ich
wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre.
Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
"Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
"Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
"Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er
den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
"Genauso ist es", sagte sie. "Genauso denken die Männer. Aber warum
nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es
wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts
verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das geht zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann fuhr sie fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
"Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in
den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte
sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank
inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger
Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
"Ist die Kulp da?" fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und sagte: "Ihr anderen
solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch
dalassen." Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte
den Kopf.
"Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief er, "sauf den Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
"Geht in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie Labude munter. "Mein Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem die Ärzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß
ein Viertelstündchen warten. Später treff ich euch wieder." Labude stand
auf. Die Reiter holte ihren Mantel. Fabian kam mit Fräulein Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
"Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
"Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht
sterben."
"Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten.
Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht
ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze
Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem
Freund den Rücken.
Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob
sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
"Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen", sagte Fabian zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug,
und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine
findet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
"Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
"Es gefällt Ihnen hier nicht?"
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich
neugierig um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
"Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
"Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine. Man rannte
durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
"Das soll der Doktor sein?" fragte Fräulein Battenberg. Durch die
Seitentür trat eine große, hagere Dame im Abendkleid, das Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
"Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn
erwischen, dann vergiftet er sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die
Bildhauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an
sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte
kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los,
überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
"Nein!" brüllte die Selow noch einmal. "Ich habe genug davon! Bis
dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden ver-schwunden.
"Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.
ZEHNTES KAPITEL
Topographie der Unmoral
Die Liebe höret nimmer auf!
Es lebe der kleine Unterschied!
"Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
"Sie kennen ihn doch gar nicht!" Er ärgerte sich über ihre Frage und
ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus,
es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst
auf horizontale Art."
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der
nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
"Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
"Danke schön. Da muß ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
"Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu übernachten." Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
"Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
"Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das", sagte er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
"Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
"Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
"Ich bin Referendar", erklärte sie. "Meine Dissertation betraf eine
Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner
Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
"Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
"Wenn es sein muß, auch das", sagte sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
"Sogar der Mond scheint in dieser Stadt", bemerkte die Kennerin des
internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen
mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum
Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem
Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte,
ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seineTochter, und das hatte er nicht erwartet... Soweit diese riesige Stadt
aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner
gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im
Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in
allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang."
"Und was kommt nach dem Untergang?"
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab
zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit."
"In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen",
sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?"
"Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir
kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre
nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte
auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.
Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich
kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich
Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein
braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen."
"Und wie lautet Ihre Hypothese?"
"Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise,
bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten
Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann."
"Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie.
"Ich bitte darum", meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste
dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die
Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den
Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit
Dunkelheit und verbargen den Himmel. "Ich bin angelangt", sagte sie und
machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian
wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen
dürfe.
"Wollen Sie es wirklich?"
"Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und
legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. "Diese Stadt ist
groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie mich falsch
verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen?
Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine
Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts
ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des
Nachts schwarze Bäume."
Fabian sagte lauter, als er wollte: "Ich komme gern mit.
Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu
ihm. "Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen." Er
drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte
er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde
nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und
amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat.
In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner
Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte
Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen
Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu
kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und
Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
"Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian.
Herr Dröger grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab.
Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
"Um Gottes willen", flüsterte Fräulein Battenberg. "Da wohnt jemand
anderes."
"Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten
Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den
Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im
Monat."
"Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt.
Die Sprungfedern knirschten unwillig. "Die Nachbarschaft habe ich
gratis", meinte sie.
"Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt."
"Ach, ich bin so froh", sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin.
"Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin
Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?"
Sie traten ans Fenster. "Heute sind sogar die Bäume freundlicher",
stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das macht, weil ich
sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß.
Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb
bat, mitzukommen."
"Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es
selber noch nicht."
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. "Wie
heißt du eigentlich?" fragte er.
"Cornelia."
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert,
während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen
schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du noch,
daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter
Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren
Egoismus bestrafen willst?"
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief
Atem und antwortete: "An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich
nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich
liebhabe."
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. "Vorhin,
als wir uns umarmten, hab ich geweint", flüsterte sie. Und als sie sich
dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie
lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe
glücklich. "Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich
dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du
sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich
freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das verspreche ich
dir." Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen,
daß beiden der Atem verging.
"So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!"
Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. "Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich
meine, wenn mich jemand liebgehabt hat - aber du verstehst mich schon, ja?
-, dann habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur
einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen,
daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme."
Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus
Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob
er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in
den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie
spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor
Fabians Tür.
"Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er
drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie
klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und
äußerte feierlich: "Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor
Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen." Dann warf er
sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
"Nein!" sagte sie hinter ihm. "Das ist nicht möglich." Aber dann
glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf
klatschen", erklärte er würdevoll.
"Das ist beim Schuhplattler nicht anders", meinte sie und tanzte
weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch,
setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche,
obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte,
die Speisekarte."
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und
markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später
stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den
Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: "Bringen Sie mich
unverzüglich in mein Appartement zurück."
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie
ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie
ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann
wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine
Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld
nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und
sagte: "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre
Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die
Selow? Es lebe der kleine Unterschied!"
ELFTES KAPITEL
Die Überraschung in der Fabrik
Der Kreuzberg und ein Sonderling
Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit
Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an
der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem
Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete.
Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige
Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und
Zigaretten sechs verschie-dener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten.
Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten
Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel
erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen
wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit
langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen
Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten
automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt
siebenhunderttausend Schachteln, umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine
Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen
pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen.
Da erschien Fischer, rief: "Nanu?" und blickte dem Kollegen neugierig
über die Schulter.
"Der Entwurf fürs Preisausschreiben", sagte Fabian. Fischer zog das
graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: "Darf ich Ihnen
nachher mal meine Zweizeiler zeigen?"
"Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik."
Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges
Faktotum, auch "der Erfinder des Plattfußes" geheißen, schob
sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf
Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians
Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit
diesem Inhalt:
"Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter
dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare
Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns
erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische
Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine
bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des
Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit
und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste." Unterschrift.
Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf,
zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: "Auf
Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen."
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Man hat mir eben gekündigt."
Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. "Was Sie nicht sagen!
Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!"
"Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben."
Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit
feuchter Hand sein Bedauern aus. "Na, zum Glück läßt Sie die Sache
kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau am
Hals."
Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah,
daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen
guten Morgen.
"Guten Morgen, Herr Direktor", grüßte Fischer und verbeugte sich
zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen
zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich
vermache es Ihnen." Damit verließ Fabian seine Wirkungs-stätte und
holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten
vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende
Ge-bäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf
den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen Bewurf. Eine Reihe
bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der
Depe-schenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian
stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch drin sei, und
dachte: "Was wird mit mir?" Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte,
spazieren.
Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger
hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in
Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte.
Aber wo war hier ein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den
Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte
er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte.
Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der
verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die
Treppe hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier
wohnte. Aber da war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Die alte
Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des
regelmäßigen dummen Greisinnenge-sichts. Im Inflationswinter hatte er
kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben
gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System
gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen
eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen
Bekannten-kreis aufgeklärt worden. Vorher, damals und heute, er war stets
ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu
bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen
das Krummsit-zen oder das Nägelkauen.
Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht
sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so
rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen
und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine
lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben
zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der
weibliche Referendar, hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf die Hand
gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie
zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und
energisch erklärt: "Ich werde die Annoncen leuchten lassen!" Dann sei er
wieder zurückgesunken.
Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf
eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild
stand: "Bürger, schont eure Anlagen!" Der Magistrat hatte den
außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat
mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes.
Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume
hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der
die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: "Soll man
sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit:
"Gegen die Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich.
Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige
Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart und mit einem
schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche,
verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut,
der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinen-träger steuerte
auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrü-ßungsformel murmelnd,
neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise
in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen
Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande-ren Kreises durch eine Gerade in
Verbindung, kompli-zierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr,
schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von
neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: "Verstehen Sie was von
Maschinen?"
"Bedaure", sagte Fabian. "Wer mich sein Grammophon aufziehen
läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktio-niert.
Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befas-se, brennen nicht. Bis zum
heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu
bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der
einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betrie-bene Metallgehäuse zu
sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich
niemals be-greifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine
Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit
grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der
Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte,
wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die
Empore kam." Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie
dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte. Er sah den blassen,
dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor
er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige
Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der
Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen
vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses
hin-aufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme
seiner Mutter hinter der Tür: "Wer ist denn draußen?" Und er hörte
sich, außer Atem, rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß mal
nachsehen, ob's dir heute besser geht."
Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so
lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen
Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen", sagte er. "Ich bin ein
sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissen-schaftlichen Akademien.
Die Technik verdankt mir er-hebliche Fortschritte. Ich habe der
Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als
früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der
alte Herr hustete und zupfte sich nervös am Spitzbart. "Ich erfand
friedliche Maschi-nen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das
konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm
zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine
Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer
Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als
ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt.
Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde von einem
Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld." Der alte Herr schob den
steifen Hut aus der Stirn und hustete. "Als ich zurückkam, stellte mich
meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld
wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen
nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben,
sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr
ver-schollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter
ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie
ein Strolch durch Berlin."
"Alter schützt vor Klugheit nicht", sagte Fabian. "Leider sind nicht
alle Erfinder so sentimental."
"Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung
zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen
Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind
Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen
Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in meiner
geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern." Der alte Herr schlug
sich stolz an die Brust und hustete wieder. "Heute abend übernachte ich
Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das
Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche
Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist
Oberpostschaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Familie
Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort setze ich mich auf die
Treppe. Viel-leicht ist die Bodentür offen. Manchmal liegt gar eine alte
Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder."
"Woher kennen Sie Grünbergs?"
"Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch
einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen
Absichten erkundigt. Am näch-sten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus.
Aber die jahrtausendealte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen
und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab.
Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an
einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein Auf-klärungskurs
gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem
Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen.
Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich
stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu, die fortreisen,
ankommen und zurück-bleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da
und bin froh, daß ich lebe."
Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. "Heben Sie
sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Portier vorzeitig von der
Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen." Der
alte Herr las den Zettel und fragte: "Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?"
Fabian zuckte die Achseln.
"Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti-gen", meinte
der Alte. "Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich
überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu
erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich
war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es
spielt keine Rolle. Wie's kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf
meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir
so egal wie der Sonne." Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit
von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter.
"Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos",
erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen
Berlins zurückführte.
Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung
betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheur berichten. Schon
die bloße Vorstel-lung von der kommenden Szene rührte ihn tief.
Vielleicht hatte er auch Hunger.
Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand im
Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude
sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich
Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht
ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er
etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der
Selow dachte.
Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz
gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins reine zu
schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für
Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungs-system und in der Folge seine Moral lädiert.
Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer.
Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der
Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und
trotz-dem ruhig bleiben kann.
"Du siehst schlecht aus", sagte Fabian.
"Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht", gestand der Freund. "Diese
Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann
stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als
bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in
solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann
fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung
ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet sie
bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich sie aber auch
nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell." Fabian
ließ den Freund reden.
Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen
fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich
verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe
einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der Wohnung Nummer Zwei bleiben.
Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich
mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er.
Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen?
Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah elend aus, war gar
nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg
aus-führlich schon berichtet hatte. Die kleine Kulp war in die Charité
gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy,
der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier,
kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben.
Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer
geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine
weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter
sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo
der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war.
Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian
Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Grunewaldvilla keine
Auskunft hatte geben können. "Ich weiß, wo er wohnt", meinte Fabian.
"Außerdem hat er bis vor wenigen Minu-ten nebenan in meinem Zimmer
gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen."
"Er war hier?" rief die Bildhauerin. "Auf Wiedersehen!" Sie rannte
davon.
"Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia.
"Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian.
"Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere.
"Gefällt dir das?" fragte sie.
"Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer,
wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich
diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was
mir gefällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf
stoßen."
"Du hast nichts als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler
könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb." Während des Essens
erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war
heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und
Direk-toren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige
Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz
in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer
machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen
fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und
sagte lächelnd: "Die eiserne Ration."
"Du bist rot geworden", rief er.
Sie nickte. "Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern
gibt."
Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte
inzwischen, wie er ihr die Kündigung bei-bringen wollte. Aber der
Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand
hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder
mit der Pelerine. "Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden
verdor-ben", erzählte er. "Ich habe um die Yorckstraße einen Bogen
gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe,
daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber
arbeitslos."
"Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia. "Ist das wahr?" Der alte Herr
entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse
Bescheid.
"Heute morgen hat man mir gekündigt." Fabian ließ Cornelias Arm
los. "Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt.
Wenn ich meine Miete vorausbezahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig
Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn aufs Sofa
gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an
seiner geheimen Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm gute Nacht und
gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem
Gast ein paar belegte Brote.
"Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte.
"Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen
Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld,
die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie
wir's morgen früh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre
Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa
biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie
morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen."
"Gute Nacht, junger Freund", bemerkte der Alte und holte seine
kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut."
Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine
Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. "Ach, ist das
Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?"
"Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!" Er
saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das
ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit
zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben."
"Das ist ja eine Liebeserklärung", sagte sie leise. "Wenn du jetzt
heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er.
Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Schlüpfer an
und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter Tränen. "Ich heule",
murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er
zog sie aufs Bett. Sie sagte: "Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine
Sorgen."
ZWÖLFTES KAPITEL
Der Erfinder im Schrank
Nicht arbeiten ist eine Schande
Die Mutter gibt ein Gastspiel
Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon
aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete.
"Haben Sie gut geschlafen?"
Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. "Das
geborene Schlafsofa", sagte er und streichelte die braune Sofalehne, als
handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?"
"Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fa-bian. "Während ich
bade, bringt die Wirtin das Früh-stück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen
nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist, sind
Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden
hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den
Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, während Sie
baden?"
"Ich dachte, in den Schrank", sagte Fabian. "Der Schrank als
Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen
wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag
ange-nehm?"
Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hin-ein und fragte:
"Pflegen Sie sehr lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten
Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der
alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm
unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. "Und
wenn sie mich hier findet?"
"Dann ziehe ich am Ersten aus."
Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: "Nun
scheren Sie sich in die Wanne!" Fabian schloß den Schrank zu, nahm
vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau Hohlfeld,
das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über
und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir den Rücken
abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen."
"Die Reinlichkeit wird mir zum Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte
ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum
Schluß saßen sich beide im Wasser gegenüber und spielten hohen
Seegang.
"Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwi-schen der König
der Erfinder und wartet auf seine Befrei-ung. Ich muß mich beeilen."
Sie kletterten aus der Wan-ne und frottierten einander, bis die Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
"Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie.
Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem
Mund und Hals, von jedem Körperteil ein-zeln. Dann lief er in sein Zimmer.
Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr
stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte
nachzuholen.
"Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging in den Korridor,
öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel,
daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte die
imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfin-der zu. "So,
nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite
Tasse."
"Und Ihr Onkel bin ich außerdem."
"Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer
schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir
ein Brötchen nehmen?" Der alte Herr begann den Schrank zu verges-sen. "Wenn
ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben,
geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht.
"Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich", entgegnete Fa-bian. Sie
stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetassen an und
riefen: "Prost!"
"Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich
liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude
in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks
weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das
heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie von einem Eisenbahn-zusammenstoß oder einer anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke
täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke,
liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich
sachver-ständig."
"Und die Menschen?"
"Der Globus hat die Krätze", knurrte der Alte.
"Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten
gut aus", sagte Fabian und stand auf. Er verließ den Gast, der noch
immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu stören, und ging
zum Arbeitsamt seines Bezirks.
Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei
Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine westliche
Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war. Er
fuhr mit dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging in das angegebene Lokal.
Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser
Krankenschwestern, Kindergärtnerin-nen und Stenotypistinnen und erregte, als
einziger männ-licher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.
Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar
Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines Konsumvereins
aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er
sich melden sollte. Hinter dem ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter,
davor standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach
dem anderen, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen
Kontrollvermerk.
Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren,
manche konnten geradezu elegant ge-nannt werden, und wer ihnen auf dem
Kurfürstendamm begegnet wäre, hätte sie fraglos für freiwillige
Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen
Gang zur Stempelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen
Geschäftsstraßen. Vor den Schau-fenstern stehen zu bleiben, kostete
noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten,
oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertags-anzüge, und sie
taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?
Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und Glied und
warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder einstecken durften. Dann gingen
sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik.
Manchmal schimpfte der Beamte und legte eine Karte beiseite. Ein
Gehilfe trug sie in den Nebenraum. Dort thronte ein Inspektor und zog
unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit
zu Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief einen Namen. Fabian
las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden
zu tragen. Es war verboten, Umsteigebilletts der Straßenbahn von den
Erstinhabern zu übernehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten,
politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es wurde
mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes
Mittagessen erhal-ten könne. Es wurde mitgeteilt, für welche
Anfangsbuch-staben sich die Kontrolltage verschoben hatten. Es wurde
mitgeteilt, für welche Berufszweige die Nachweisadressen und die
Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten.
Es war verboten. Es wurde mitgeteilt.
Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beam-ten seine
Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht üblich, und er
empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wenden, die für freie Berufe,
Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse.
Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag.
Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr gemischte Gesellschaft. Den
Anschlägen entnahm er, daß es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen,
Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der
Krisenfürsorge", sagte ein kleiner Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden
Kopf meiner Familie kom-men in der Woche 2,72 Mark, und auf einen Tag für
einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau
ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen."
"Wenn das so leicht wäre", seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger
Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis
gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus."
"Es ist mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt.
"Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule
mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an."
"Als ob Stehlen Sinn hätte", sagte ein großer, breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will er
gleich zum Lumpenproleta-riat übergehen. Warum denken Sie nicht
klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur? Merken Sie noch immer
nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten."
"Bis dahin sind meine Kinder verhungert."
"Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten
Herren Kinder noch rascher", sagte der Mann am Fenster. Der kurzsichtige
Jüngling lachte und schaukelte entschuldigend mit der Schulter. "Meine
Soh-len sind völlig zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich jedesmal
hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich
kein Geld."
"Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige.
"Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr.
"Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster.
"Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian.
Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein
Vermögen. "Die Hälfte des Geldes geht regelmäßig für
Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man. Rückporto braucht man. Die
Zeugnisse muß ich mir jede Woche zwanzigmal abschreiben und
beglaubigen lassen. Kein Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal
Antwort erhält man. Die Bürofrit-zen legen sich vermutlich mit meinem
Rückporto Brief-markensammlungen an."
"Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster.
"Unter anderem haben sie Gratiszeichenkurse für Arbeitslose eingerichtet.
Das ist eine wahre Wohltat, meine Herren. Erstens lernt man Äpfel und
Beefsteaks malen, und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als
Nahrungsmittel."
Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu sein schien,
sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner."
Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian erkundigte sich,
vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier abgefertigt zu werden. Der
Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts.
"Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen."
"Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die Tournee
begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da.
"Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling, "aber daß
die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten."
Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte
bereits eine Mark Fahrgeld ver-braucht und blickte vor Wut nicht aus dem
Fenster.
Als er ankam, war das Amt geschlossen. "Zeigen Sie mal Ihre Papiere
her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian
gab dem Biedermann das Zettelpaket: "Aha", erklärte der Türsteher nach
eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich
auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten.
"Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das
Geld haben Sie doch von Ihrer Firma er-halten?"
Fabian nickte.
"Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor.
"Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die
Stellenan-gebote in den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's
nicht beschreien."
"Glückliche Reise", sprach Fabian, nahm die Papiere in Empfang und
begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu
guter Letzt verfütterte er sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im
Neuen See spazieren fuhren.
Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mutter vor. Sie
saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte: "Da staunst du,
mein Junge."
Man umarmte sich. Sie fuhr fort: "Ich mußte nachsehen, was du
machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Geschäft
kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest meine Briefe nicht mehr.
Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob."
Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und erklärte,
es gehe ihm gut.
Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?"
Er schüttelte den Kopf. Sie stand auf. "Die Wäsche habe ich dir schon
in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal reinemachen. Ist sie noch
immer zu fein dazu? Was denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete
den Spankorb und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst", sagte sie, "ein
Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel.
Leider kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich's aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen.
Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus dem Laden. Wenn
das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge. Ich glaube, die Leute
waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?"
"Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du sollst nicht so viel Geld für
mich ausgeben."
"Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter und legte die Eßwaren auf
einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine Gnädige. Ich
hab's ihr schon erzählt. Morgen abend fahre ich zurück. Ich bin mit dem
Perso-nenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir
haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel? Überall stehen
leere Zigaretten-schachteln herum."
Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung wie ein
Gendarm.
"Ich mußte gestern daran denken", sagte er, "wie das damals war,
als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich rannte abends
davon, über den Exerzier-platz, nur um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal,
das weiß ich noch, schobst du einen Stuhl vor dir her und stütztest
dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können."
"Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter", sagte sie. "Man
müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?"
"Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran können sie
eine Viertelmillion verdienen."
"Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande." Die Mutter war
empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee, stellte das Tablett
auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da."
"Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt.
"Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin.
"Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen Schaden getan, gnädige Frau",
erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte sich gekränkt. Fabian holte
den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter Freund von mir.
Er hat gestern auf dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel
ernannt, um das Verfahren abzu-kürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das
ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts. Nehmen Sie
Platz. Aus dem Sofa wird heute freilich nichts. Aber ich möchte Sie für
morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist."
Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf
und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat
er. "Es ist meine Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich
wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen."
Fabian steckte den Briefumschlag ein. "Man will Sie ins Irrenhaus
sperren?"
"Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort.
Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber
ein bißchen verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war schon
einmal dort. Wenn mir's zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen
Sie, meine Dame", sagte er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten.
Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird gleich klingeln. Ich
bin soweit. Die Papiere sind gut aufgehoben. Verrückt bin ich übrigens
nicht, ich bin meinen werten Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund,
schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt."
Es klingelte.
"Da sind sie schon", rief der Alte. Frau Hohlfeld ließ zwei
Herren eintreten.
"Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte
sich. "Vollmachten, die Sie gern einsehen können, veranlassen mich, Herrn
Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise zu entfernen. Unten wartet mein Auto."
"Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte
es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur wart. Tag, Winkler. Da
wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?"
Der Arzt hob die Schultern.
Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein und
schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm dessen Hand.
"Ich danke Ihnen sehr." Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten Sohn",
sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaup-ten." Dann
verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und
seine Mutter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei
Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten Erfinder in einen
Staubmantel. Die Pelerine wurde ver-staut.
"Ein komischer Mann", sagte die Mutter, "aber verrückt ist er nicht."
Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?"
"Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die Wirtin
nichts merkte", sagte der Sohn. Die Mutter goß Tee ein. "Aber
leichtsinnig ist es trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu
lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht."
Fabian schrieb sich die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert und
schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte
er: "Komm, mach dich fertig. Wir gehen ins Kino." Während sich die Mutter
anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei.
Die Freundin war müde und lag schon im Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem
Kino zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir herein?"
Er versprach es.
Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein albernes
Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Abgesehen davon war nicht
gespart worden, der vorge-führte Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte,
obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Ein-druck, unter
den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das
freute Fabian so sehr, daß er mitlachte.
Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt. "Wenn ich
früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein Junge, dann hättest du es
besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit.
"Es war auch so nicht übel", sagte er. "Und außerdem ist es
vorbei."
Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer auf
dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter bereitete das
Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan, sagte er dann. "Dort wohnt
eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für
alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.
Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und
bestieg sein Sofa.
"Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian.
"Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach
der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschlafen, stand er noch einmal auf,
tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich über das Bett und sagte wie einst:
"Schlaf gut, Muttchen."
"Du auch", murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte das nicht
sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.
DREIZEHNTES KAPITEL
Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer
Das reziproke Bordell
Die zwei Zwanzigmarkscheine
Am anderen Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. "Aufstehen,
Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den
Kaffee im Stehen und verabschiedete sich.
"Ich werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas von Staub
überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es
ist ja warm draußen." Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die
Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinnerte plötzlich an
zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in
den Schoß legst", warnte er.
"Wäre es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in den
Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du würdest
mir wieder einmal davon erzählen, wie komisch ich als Kind war. Als ich die
Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um
dir das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Geburtstag
weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe
schenkte."
"Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist
mir noch wie heute", sagte die Mutter und strich sein Jackett glatt. "Der
Anzug müßte gebügelt werden."
"Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige Kinder",
ergänzte er in weiser Voraussicht. "Scher dich an die Arbeit!" Die Mutter
stemmte die Arme in die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole
dich am Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich
zum Bahnhof."
"Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam
noch einmal zurück.
Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich
hielt es drüben nicht mehr aus", murmelte sie. "Aber nun geht's schon
wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das Leben nicht zu
schwer neh-men, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter."
"Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte
und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er
den Schritt und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel
trieb er da mit der alten Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu
tun hatte. Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen
Zimmer, obwohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm
Zusammensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro abholen. Er mußte
ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen
war. Der Anzug, den er trug, war der einzige, den er sich in
zweiunddreißig Jahren selber gekauft hatte. Ihr Leben lang hatte sie
deswegen geschuf-tet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens spazieren.
Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Absicht liegt,
außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und keinen Schirm
haben, Unterhaltung zu bieten. Er höre einer Verkäuferin zu, die sehr
gewandt Klavier spielte. Aus der Lebensmittelabteilung vertrieb ihn der
Fischgeruch, den er seit seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer
embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank verkaufen. Das
Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich
der unerhörten Zumutung und wan-derte in die Buchabteilung. Er geriet an
einem der Anti-quariatstische über einen Auswahlband von Schopenhau-er,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten Onkels der
Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heilpraxis zu veredeln, war
freilich eine Kateridee, wie bisher alle positiven Vorschläge, ob sie nun
von Philosophen des neunzehnten oder von Nationalöko-nomen des zwanzigsten
Jahrhunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich.
Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
"Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke
̉έυχολος und
δύσχολος bezeichnete. Dersel-be
läßt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr
verschiedene Empfänglichkeit für ange-nehme und unangenehme Eindrücke,
infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den anderen fast zur
Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme
Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und
umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglück-lichen
Ausgangs einer Angelegenheit wird der
δύσχολος bei dem unglücklichen sich
ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich aber nicht freuen; der
̉έυχολος hingegen wird über den
glücklichen sich freuen. Wenn dem
δύσχολος von zehn Vorhaben neun
gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das
eine mißlungene: der ̉έυχολος
weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu
trösten und auf-zuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensa-tionen ist, so
ergibt sich auch hier, daß die
δύσχολοι, also die finsteren und
ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger reale
Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und
sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und
demnach seine Vorkehrun-gen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben,
als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht."
"Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein.
"Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: "Im
Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe
abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht, daß er, gerade er, jene zwei
menschlichen Gattun-gen als einander ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte
nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei
nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz
die Anschauung der δύσχολοι wider
besseres Wissen verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und
keramisches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käufer,
Verkäuferin-nen und Bummler umstanden ein kleines verheultes Mäd-chen, das
zehn Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug und ärmlich angezogen war.
Das Kind zitterte am ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. "Was
ist los?"
"Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschen-becher stahl",
erklärte eine alte Jungfer. "Hier!" Sie hob eine kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorge-setzten.
"Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
"Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
"Marsch zum Direktor!" rief eine der Verkäuferinnen und packte die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
"Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
"Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß sie das Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn ausgerechnet einen Aschenbecher weggenommen?" fragte er. "Rauchst du
schon Zigarren?"
"Ich hatte kein Geld", sagte das Mädchen. Dann hob es sich auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Ge-burtstag."
"Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
"Das Kind verdient aber Strafe", behauptete der Abtei-lungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. "Wenn Sie sich meinem Vorschlag widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind
bis zum Ausgang. "Hier hast du deinen Aschenbecher", sagte er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte einen großen Koch-topf, um ihn seiner Mutter am
Heiligen Abend zu schen-ken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schim-merte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwerfällig vom Sitz und wollte
aussteigen. Fabian öffnete den Wagenschlag, half der Dame vom Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins
Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und
öffnete einen zweiten Wagen. "Da!" sagte jemand und gab ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertel-stunde später fünfundsechzig Pfennig verdient. "Wenn jetzt Labude
vorbeikäme und den literarhistorisch vorge-bildeten Autoöffner sähe",
überlegte er. Aber der Gedan-ke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll. "Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge", sagte sie und
lächelte schadenfroh. "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die Schlüssel hättest du behalten können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhal-tung macht sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
"Was kann ich für dich tun?" fragte sie nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist leider nicht
mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Krimi-nalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
"Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind jetzt
billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter ge-schenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Be-kannte ist alt. Ihm gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
"Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?" "Junge Männer, mein
Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie
dreißig Prozent der Ein-nahmen."
"Welche Einnahmen?"
"Mein Verein unchristlicher Männer wird von Damen der besten
Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen
gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft
worden. Sie haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine
Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein Ungar, wurde
von der Frau eines Industriellen erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug ist, hat er in einem Jahr ein Vermö-gen. Dann kann er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
"Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
"So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechti-gung als ein
Frauenhaus", erklärte Irene Moll. "Außer-dem träumte ich schon als
junges Mädchen davon, Be-sitzerin eines solchen Etablissements zu werden.
Ich bin sehr zufrieden. Ich habe Geld, ich engagiere fast täglich neue
Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle
bewirbt, muß bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme
nicht jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
Sie blieb stehen. "Ich bin angelangt." Die Pension lag in einem
großen eleganten Mietshaus. "Ich möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung
notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
"Hier sind die Pakete", sagte Fabian. "Ich möchte mei-nem Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
"Gaston, hast du heute Ausgang?" fragte sie. "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minu-ten bin ich wieder da."
"Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr hat sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte, nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt
du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache. Außerdem
tätest du mir einen persönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich
sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
"Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er
die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote.
Dann kaufte er in einem muffigen Papierladen Schreibmaterial und
verfaßte vier Bewer-bungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt
hatte, fand er, es sei Zeit. Und er pilgerte, recht müde, zu der
Zigarettenfabrik.
"Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
"Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien. Er ging rasch ins Verwaltungsge-bäude, setzte sich in eine
Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Sooft er Schritte
hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war
Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerk-ten ihn
nicht.
Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
"Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben
berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
"Herr Direktor sind sehr gütig", erwiderte die andere Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
"Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt
einiger Verbesserungen. Ich werde gleich, unter Zugrun-delegung Ihres
Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen.
Sie haben es gut."
"Meister muß sich immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang er-schrocken einen Schritt
zurück. Direktor Breitkopf fin-gerte im Kragen. "Ich bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
"Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. "Hübsch
fleißig gewesen?" fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und
spazierte in seinen Verschlag.
Fabian gab der Mutter die Hand. "Wir haben noch eine halbe Stunde
Zeit", sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug
belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
"Nicht so weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
"Nun kann's wieder abgehen", sagte sie. "Der Henkel vom Mantel ist
angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
"Junge, bist du leichtsinnig", sagte sie. Er lachte, kletterte ins
Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
"Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
"Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und komm
heim."
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Foto-grafen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß dir's gutgehen", flüsterte er. "Es
war schön, daß du da warst."
Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. "Wenig mit Liebe, Deine
Mutter", war daraufge-schrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu
lesen. "Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im
Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzig-markschein finden, den er
ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis
gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber
gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des
Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude der Kon-kurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der
Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wä-ren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
"Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich
kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt
Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
"Doch", sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmark-schein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
"Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Weg ohne Tür
Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben
In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch Türen. Und der Him-mel war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende
gehen.
"Es hat keinen Zweck", sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der
alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
"Guten Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte, Sie wären im
Irrenhaus."
"Hier ist es ja", sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte ble-chern, dann ging ein Tor auf, wo keines
war.
"Meine neueste Erfindung", sagte der Alte. "Gestatten Sie, lieber
Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorge-sehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie
ein Ballon.
"Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
"Nicht der Rede wert", erwiderte der Erfinder. "Haben Sie meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen
auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schau-feln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von klei-nen Kindern in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
"Kommen Sie an das andere Ende", sagte der Erfinder. Sie fuhren auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
"Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbir-nen senkten sich
nieder, kippten automatisch um und schüttelten ihren Inhalt auf einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr
handgreifliches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als kenn-ten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz
gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer drehte sich im Kreise. Offensichtlich wollte er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
"Hunderttausend am Tag", erläuterte der Erfinder. "Da-bei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewo-che eingeführt."
"Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
"Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment, die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine heran und stocherte
mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann
verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Besse-merbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein zweiter Fabian,
aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen,
stellte sich zu den anderen Figuren und starrte, gleich ihnen, auf die
Spiegel-bilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung, Patent Kollrepp." Dann schritt er auf
den wirklichen Fabian zu, der im Hof stand, ging mitten in ihn hinein und
war nicht mehr da.
"Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschi-nenmenschen, der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Men-schen versanken
plötzlich darin wie in einem durchsichti-gen Sumpf. Sie rissen die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen, wie Fische, mit dem
Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die
wirklichen Men-schen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen lag bloß eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib, saßen an
Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbro-chene Strümpfe und im Genick
geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten
Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen
Tischen saßen dicke Männer, halb-nackt, behaart wie Gorillas, mit
Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in
enganliegenden Trikots stolzier-ten wie gezierte Mannequins über einen
erhöhten Lauf-steg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war,
angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde.
Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Bur-schen vorn Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die
fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten
entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen,
auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene far-bige
Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben
ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sie stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der
Glut voran, in den Mund stoßen wollte. "Sträuben nützt bei dem
nichts", meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte. "Das ist Makart, ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
"Spring ihr doch nach", sagte die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine
Schaufensterausla-ge." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah
Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans
Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Ge-sichts,
dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit
aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
"Wunderbar", rief Irene Moll. "Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im
Zeitalter des Sports." Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: "Jetzt
freß ich dich." Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren inein-ander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie
kleine Seifenblasen aus ihren Augen-winkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder
Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen
einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den
Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man
stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vorder-mann einen bunten
Aschenbecher aus dem Mantel. Plötz-lich war Labude auf der obersten Stufe.
Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: "Freunde!
Mitbür-ger! Die Anständigkeit muß siegen!"
"Aber natürlich!" brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
"Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
"Ich danke euch", sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
"Du bist ein Narr!" rief Cornelia, stand neben Labude und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
"Meine besten Freunde sind meine größten Feinde", sagte Labude
traurig. "Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich
untergehe."
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fen-ster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen
weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
"Um die ist es nicht schade", sagte Fabian zu dem Freund. "Nun komm!"
Aber Labude blieb in dem Ku-gelregen stehen. "Um mich auch nicht mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athleti-sche
Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
abstürzten. Man hörte den Auf-schlag der hohlen Schädel. Flugzeuge
schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
"Warum machen das die Leute?" Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
"Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegne-te er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
"Ich verkaufe die Restbestände", war die Antwort. "Pro Leiche
dreißig Pfennig, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
"Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
"Später", sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
"Nun geh nach Hause", meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. "Ich verdiene keinen Pfennig",
murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauch-ten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die
Trümmer. Sooft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
"Labude!" schrie er. "Labude!"
"Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
"Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
"Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
"Soll ich Licht machen?" fragte sie.
"Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
"Gute Nacht", sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Ein junger Mann, wie er sein soll
Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief
Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es
getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte sie geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge
heraus.
"Was machen Sie denn da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt
eingetreten.
Fabian sagte abweisend: "Ich fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
"Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
"Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
"Stellungslos?" fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
Sie nahm rasch das Geld und meinte: "Das war nicht so eilig, Herr
Fabian."
"Doch." Er legte die letzten Scheine und Münzen über-sichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
Die Wirtin wurde gesprächig. "In der Zeitung schlug gestern ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmeeres um zweihundert Meter
senken, dann kä-men große Ländereien ans Licht, wie vor der Eiszeit,
und man könne sie besiedeln und Millionen von Menschen darauf ernähren.
Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Däm-me, eine durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub tanzte.
"Na also!" rief er. "Auf, ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohl-feld?"
"Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort. Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am Mittelmeer." Sie gab dem Gespräch eine Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
"Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können."
"Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
"Erraten." Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und
wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt
hatte: "Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich." Fabian blätterte
gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums
zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der
Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachs-tum der christlichen Kirche
nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert
zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eig-nung des
Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum
Propagandisten stünden außer-dem in Frage; Vernunft könne man nur
einer beschränk-ten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon
vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestrit-ten, bis sie
fanden, der Meinungsstreit trage allzu akade-mischen Charakter, denn beide
möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen
klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
"Herr Zacharias läßt bitten."
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll
die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er
debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge
machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das
Binden von Krawatten zum aufregendsten The-ma der Gegenwart. Und die
Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheu-er wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrschein-lich. Er diente dem Betrieb als
Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulans. Er wurde
unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit achtundzwanzig Jahren, ein
Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu
erzählen gab.
"Frei ist nichts", sagte Zacharias, "und ich wäre Ihnen so gern
gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend
miteinander auskämen. Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgen-dem: Wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbei-ter,
den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut
gebrauchen. Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könn-ten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und Eier legen. Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Drei-hundert
Mark würde ich für Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie ihn. Na?" Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort:
"Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
Fabian sagte: "Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit
einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: "Dieser junge
Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sie's, und Sie werden
sehen, er macht alles." Ich könnte den Text auch auf einen großen
Luftballon malen."
"Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor." Za-charias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegen-heit zu, er bestand geradezu auf ihr.
"Was nützt es mir, daß ich begabter bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber
offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Wegs, bat um Rat und
wurde obendrein vorlaut.
"Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung übelnehmen", sagte
Fabian. "Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht
eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe.
"Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine
Konferenz, sagen wir nach zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein.
Servus."
Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber.
Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden
konn-ten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus.
Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig
später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich
über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes
Hutgeschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie
bereits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk
saß, sah gemütlich aus. "Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
"Nächstens lerne ich Strümpfe stricken", sagte der Mann, "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute
lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht
umsonst."
"Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus
zu liefern, genau wie das Leitungswas-ser", erzählte Fabian. "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
"Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
"Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßen-bahnen und Autobusse mitten
durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahn-haltestelle, fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
"Lieber Fabian", schrieb Cornelia, "ist es nicht besser, ich gehe zu
früh als zu spät? Eben stand ich neben Dir am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so wichtig werden kann. Solange Du allein warst, konnte Dir nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
Sie wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe
ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu
umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts.
Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener
Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie
verkauft. Wenn ich noch einmal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich
lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir
einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
gehe jetzt von Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich
liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umarmen können trotz
dem anderen? Morgen nachmittag werde ich, von vier Uhr ab, im Café
Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst?
Cornelia."
Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das Herz tat
weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als wehre er sich gegen
Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich zusammen. Der Brief lag
unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel.
"Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!" sagte Fabian.
SECHZEHNTES KAPITEL
Fabian fährt auf Abenteuer
Schüsse am Wedding
Onkel Felles Nordpark
Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er
stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht,
in dem manchmal kleine Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten
Bahnsteige der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug aus
dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in düstere
Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund
um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten. Er starrte auf das
glitzernde Gewirr der Eisenbahngeleise hinunter, über denen er dahinfuhr;
auf die Fernbahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die
weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen
Leuchtschriften belebten Theatergiebel und auf den stern-losen violetten
Himmel über der Stadt.
Fabian sah das alles, als führen nur seine Augen und Ohren durch
Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein Blick war gespannt, aber das
Herz war besinnungslos. Er hatte lange in seinem möblierten Zimmer gesessen.
Ir-gendwo in dieser unabsehbaren Stadt lag jetzt Cornelia mit einem
fünfzigjährigen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie?
Er hätte die Wände von allen Häusern reißen mögen, bis er die zwei
fand. Wo war Cornelia? Warum verdammte sie ihn zur Untätigkeit? Warum tat
sie das in einem der wenigen Augenblicke, wo es ihn zu handeln trieb? Sie
kannte ihn nicht. Sie hatte lieber falsch gehandelt, als ihm zu sagen:
"Handle du richtig!" Sie glaubte, er könne eher tausend Schläge erdul-den,
als selber einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich
danach sehnte, Dienst zu tun und Verantwor-tung zu tragen. Wo aber waren die
Menschen, denen er so gern gedient hätte? Wo war Cornelia? Unter einem
dicken alten Mann lag sie und ließ sich zur Hure machen, damit der
liebe Fabian Lust und Zeit zum Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm
großzügig jene Freiheit wieder, von der sie ihn befreit hatte. Der
Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich
handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte,
verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden
nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er
Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor
er Cornelia. Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch hoffte, war
das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß gefüllt. Er hatte
sich darübergeneigt und end-lich trinken wollen. "Nein", hatte da das
Schicksal gesagt, "nein, du hieltest ja den Becher nicht gern", und das
Gefäß war ihm aus den Händen geschlagen worden, und das Wasser war
über seine Hände zur Erde geflossen.
Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war
ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei, Cornelia erschlief sich,
weiß der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides.
Auf der Chausseestraße, am Trakt der Polizeikasernen, sah er in den
geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten
auf die Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Einige Autos
ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folgte ihnen. Die
Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den Wagen nach. Zurufe, als
wären es schon Steine. Die Mannschaf-ten blickten geradeaus.
Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße ab, auf
der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei wartete hinter der
Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu werden. Uniformierte Proletarier
warteten, den Sturmriemen unterm Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer
trieb sie gegeneinander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann zu
Mann. Der Gesang wurde von wütendem Gebrüll abgelöst. Man spürte, ohne die
Vorgänge sehen zu können, am Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter
und die Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden.
Eine Minute später bestätigten Aufschreie die Vermu-tung. Man war
zusammengetroffen, die Polizei schlug zu. Jetzt setzten sich die Pferde
schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten
übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zerspran-gen. Die
Pferde galoppierten. Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen.
Eine zweite Polizei-kette sperrte den Zugang zur Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flogen.
Ein Wachtmeister erhielt einen Messerstich. Die Polizei hob die
Gummiknüppel und ging zum Laufschritt über. Auf drei Lastautos kam
Verstärkung, die Mannschaften sprangen von den langsamfahrenden Wagen
herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten Rändern
des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt. Fabian
drängte sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege. Der Lärm
entfernte sich. Drei Straßen weiter schien es schon, als herrsche
überall Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen standen in einem Haustor. "He,
Sie!" sagte die eine. "Stimmt das, am Wedding gibt's Keile?"
"Sie nehmen einander Maß", antwortete er und ging vorbei.
"Ich lasse mich fressen, Franz ist wieder mittendrin", rief die Frau.
"Na, komm du nur nach Hause!" Mitten in der Straßenfront, unvermutet
zwischen alten, soliden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die Gespräche der Mädchen,
die, Arm in Arm, in langer Kette vor dem Eingang bummelten. Verwegen tuende
Burschen mit schiefgezogenen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten.
Die Mädchen kicherten geschmeichelt und gaben unmißverständlich
Antwort.
Fabian trat durch das Tor. Das Gelände glich einem Trockenplatz.
Azetylenflammen zuckten und ließen die Wege und Buden halb finster.
Der Boden war klebrig und von Grasstoppeln bewachsen. Das Karussell war,
wegen mangelnder Nachfrage, mit Zeltbahnen verhangen. Män-ner in derben
Joppen, alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusammengedrängt,
die Augen hingen an der rotierenden Scheibe. Sie lief langsamer, überwand
noch ein paar Nummern, hielt still. "Fünfundzwanzig!" schrie der Aus-rufer.
"Hier, hier!" Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los.
Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker.
Wieder schnurrte das Rad. "Siebzehn!"
"Hallo, das bin ich!" Ein junger Mann schwenkte sein Los. Er bekam ein
Viertelpfund Bohnenkaffee. "Was für Muttern", sagte er zufrieden und zog ab.
"Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich was
aussuchen!" Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es rückte noch
eine Nummer weiter.
"Neun!"
"Mensch, hier!" Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände. Sie las die
Lotteriebestimmungen. "Der Hauptge-winn besteht aus fünf Pfund prima
Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder
eindreiviertel Pfund magerem Speck." Sie verlangte ein Pfund Butter.
"Allerhand für einen Groschen", rief sie. "Das kann man mitnehmen."
"Es folgt die nächste Ziehung!" brüllte der Ausrufer. "Wer hat noch
nicht, wer will noch mal? Sie da, Großmut-ter! Hier ist das Monte
Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine halbe Mark, sondern einen
Groschen!" Ge-genüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tom-bola
bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel.
"Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal
aus einer halben Hamburger Gans!" kreischte eine Schlächtersgattin. "Zwanzig
Pfennige, nur Mut, mein Volk!" Ihr Gehilfe schnitt mit einem Riesen-messer
dünne Scheiben von einer Schlackwurst und ver-teilte an die Loskäufer
Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie gruben zwei
Groschen aus dem Portemonnaie und griffen zu.
"Wie denkst du über Gänsebraten?" fragte einer ohne Schlips und Kragen
eine Frau.
"Schade ums Geld", sagte sie. "Wir haben kein Glück, Willem."
"Laß man", meinte er, "es ist manchmal komisch." Er nahm ein Los,
steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt hatte, in den Mund und
blickte erwartungsvoll auf das Rad.
"Die Ziehung nimmt hiermit ihren Anfang", kreischte die
Schlächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging wei-ter. "Hippodrom und
Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein.
Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war überhöht, wie ein Pfahlbau
stand er im Zelt, dort oben wurde getanzt. In der Mitte saß eine
Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit gehabt.
Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen Männer griffen zu. Man machte
keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen
der Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten. Sie wurden von
einem zylin-dergeschmückten Stallmeister, der die Peitsche schwang und
wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen abge-halten. Auf einem kleinen
einäugigen Schimmel saß eine Frau im Herrensitz. Der Rock war hoch
über die Knie gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf den
Sattel fiel.
Fabian setzte sich neben die Manege und trank ein Bier. Die Reiterin
zog jedesmal, wenn sie an ihm vorbeikam, den Rock herunter. Die
Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder hoch. Als sie zum
vierten Male Fabians Tisch passierte, lächelte sie ein bißchen und
ließ den Rock oben. In der fünften Runde blieb der Schimmel vor dem
Tisch stehen und glotzte mit dem blinden Auge ins Bierglas. "Da gibt's
keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmei-ster
knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die
Frau vom Pferd gestiegen, setzte sie sich betont unabsichtlich an den
Nebentisch, schräg vor Fabian, so daß er ihre körperlichen Vorzüge
nicht übersehen konnte. Sein Blick blieb auf der Figur haften, und da
erwachte sein Schmerz aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die
Umarmung, in der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier
saß, in einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden
groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die Zungenspitze fuhr
feucht an der Oberlippe entlang.
"Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne
viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten
der renommierten Rheingoldsänger. Rauchen erlaubt. Zu den
Abendvor-stellungen haben Kinder keinen Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude
war halbvoll. Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und verlogenen
Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorgesetzt wurde, bis zu
Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem ver-kitschten Kulissenzauber
als mit ihrer eigenen Not.
Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sie schmiegte sich dicht an
ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war tieftraurig. Ein
flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt,
spielte die Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause. Das
lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studen-tenlieder, bestellte einen sauren
Hering, wurde von der Portiersfrau abgekanzelt und schenkte einer alten
gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse, seinen letzten
Taler.
Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin
war - wer hätte sie sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des
fünfzigjährigen Stu-denten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen, erhielt
allmonatlich Geld von ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst,
Hofopernsängerin. Natürlich erkann-te er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspitzung
des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach herein. Der Student
liebte und wurde geliebt, letzteres geschah durch Fräulein Martin, jene
bildhübsche Nähe-rin, die gegenüber wohnte, die Nähmaschine trat und wie
eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende Ler-che, wog gut zwei Zentner.
Sie hüpfte, daß sich die Bühne bog, aus der Kulisse und sang mit
Direktor Bla-semann, dem Studenten, Couplets. Der Anfang des
er-folgreichsten Duetts lautete:
"Schatzi du, ach Schatzi mein,
sollst mein ein und alles sein!"
Das junge Paar, das zusammen an die hundert Lenze zählen mochte, schob
sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann
versprach er ihr die Ehe, sie aber wurde traurig, weil er alte Sängerinnen
vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen
hatte, machte eine leichte Drehung, sie gab ihm die Brust. "Ach, ist das
schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück.
Im Zuschauerraum herrschte wieder feierliche Stille. Die alte,
gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn Medizin studieren und einem
feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den
Hof mit Müh und Not, hob den Zeigefinger, der Pianist ge-horchte, und ein
rührseliges Mutterlied war im Entste-hen begriffen.
"Gehen wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der fremden
Frau los.
"Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.
"Hier wohne ich", erklärte sie vor einem großen Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf."
Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er drückte sie in den
Hausflur. "Was werden bloß meine Wirtsleute sagen? Nein, sind Sie
stürmisch. Aber recht leise, ja?"
An der Tür stand: Hetzer.
"Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er.
"Pst, man kann uns hören", flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen
Platz zum Abstellen."
Er zog sich aus. "Mach nicht so viel Umstände", sagte er. Sie schien
Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte sich wie eine späte
Jungfrau. Schließlich lagen sie neben-einander. Sie löschte das Licht,
und erst jetzt entkleidete sie sich völlig. "Einen Moment", flüsterte sie,
"nicht böse sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über
sein Gesicht und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht vorsichtig genug
sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege.
"Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", be-richtete sie etwas
später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach einer weiteren
halben Stunde. Er nickte. Sie verschwand in der Küche, er hörte, wie sie
spülte. Sie brachte warmes Seifenwasser, wusch ihn sorg-fältig, mit
hausfraulichem Eifer, und stieg wieder ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute
nicht, wenn du in der Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht
brennen!"
Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und nannte ihn
"Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch
ein leidenschaftlich ge-schwungenes Plüschsofa anwesend, ferner ein
Waschtisch mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck, wo-selbst
eine junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfell hockend, mit
einem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspiegel, der
schlecht funktio-nierte. "Wo ist Cornelia?" dachte er und fiel wieder über
die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
"Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich
umbringen? Aber es ist wunderbar." Sie kniete sich neben ihn, betrachtete
aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach, allein in
einem fremden Zimmer, blickte ange-spannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia,
was haben wir getan?"
SIEBZEHNTES KAPITEL
Kalbsleber, aber ohne Flechsen
Er sagt ihr die Meinung
Ein Reisender verliert die Geduld
"Ich habe gelogen", sagte die Frau am anderen Morgen. "Ich gehe gar
nicht ins Geschäft. Und die Wohnung gehört mir. Und wir sind ganz allein.
Komm in die Küche."
Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die
Wange, band die Schürze ab und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.
"Schmeckt's?" fragte sie munter, obwohl er nicht aß. "Blaß
siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif tüchtig zu, damit
du wieder groß und stark wirst." Sie legte ihren Kopf an seine
Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen.
"Du hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den Bauch
aufschlitzen?" fragte Fabian. "Und wie kom-men die zwei Betten in dein
Schlafzimmer?"
"Ich bin verheiratet", sagte sie. "Mein Mann reist für eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er im Rheinland. Dann fährt er nach
Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du so lange
bleiben?"
Er trank Kaffee und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erklärte sie
heftig, als hätte ihr jemand widersprochen.
"Nie ist er da, und wenn er da ist, lohnt sich's auch nicht. Bleib die
zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was
willst du heute mittag essen?" Sie begann zu wirtschaften und blickte
ängstlich zu ihm hin. "Ißt du gern Kalbsleber mit Bratkartoffeln?
Warum antwortest du denn gar nicht?"
"Habt ihr Telefon?" fragte er.
"Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war
so schön wie noch nie." Sie trocknete sich die Hände und fuhr streichelnd
über sein Haar.
"Ich bleibe ja", meinte er. "Aber ich muß telefonieren." Sie
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob er ein halbes
Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie ihm
Geld, öffnete vorsichtig die Vorsaaltür, und weil die Treppe leer war,
durfte er aus der Wohnung.
"Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flech-sen", sagte er im
Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn bediente, Zacharias an. Das
Telefon war fettig. "Nein", erklärte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein Lieber.
Wissen Sie was, kommen Sie mor-gen wieder mal vorbei. Es geht manchmal
schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir ein bißchen. Ist es Ihnen
recht? Wiedersehen."
Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blutete. Er zahlte
und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus. Weil die Nachbarin die
Türklinke putzte, stieg er bis zur vierten Etage hinauf. Nach einigen
Minuten kam er wieder herunter. Die Frau, mit der er die Nacht
zusam-mengewesen war, öffnete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und
zog ihn in die Wohnung.
"Gott sei Dank", flüsterte sie. "Ich dachte schon, die Klatschtante
würde uns erwischen. Setz dich ins Wohn-zimmer, Schatz. Willst du Zeitung
lesen? Ich räume inzwischen auf."
Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den Tisch, setzte
sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Er hörte die Frau singen. Nach
einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über
die Schulter. "Um eins wird gegessen", sagte sie. "Hoffentlich fühlst du
dich recht behaglich."
Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er
las den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte, war im
Krankenhaus gestorben. Von den Demonstranten waren drei schwer verletzt
worden. Eini-ge andere hatte man verhaftet. Die Redaktion schrieb von
unverantwortlichen Elementen, welche die Arbeitslosen immer wieder
aufzuwiegeln versuchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei
zufalle. Es gehe nicht an, obwohl es von gewissen Kreisen ununterbro-chen
versucht werde, den Etat für die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie
das gestrige führten, hieß es, so recht vor Augen, wie notwendig es
sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln.
Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu
die Gelegenheit bot, verschnörkelt. Auf dem Vertiko standen drei
Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller, der schlug Wellen
und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm die oberste Karte. Sie zeigte den
Kölner Dom, und er dachte an das Zigaret-tenplakat. "Liebe Mucki", las er,
"geht's dir gut, und reicht das Geld? Ich habe ganz hübsche Aufträge
gemacht, morgen geht's nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt." Er
legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser.
Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie
war froh darüber, als habe ein Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab
es Kaffee.
"Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?" fragte sie.
"Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie lief hinter ihm her. Er
stand am Fenster.
"Komm aufs Sofa", bat sie. "Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse."
Er setzte sich aufs Sofa. Sie brachte den Kaffee herein, nahm neben
Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf.
"Jetzt kommt der Nachtisch", sagte sie. "Aber nicht wieder
beißen."
Gegen drei Uhr ging er.
"Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren
Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schwöre, daß
du wieder-kommst."
"Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht."
"Ich warte mit dem Abendbrot", erklärte sie, dann öffnete sie die Tür.
"Rasch!" flüsterte sie. "Die Luft ist rein."
Er sprang die Treppe hinunter. "Die Luft ist rein", dachte er und
empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen
Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor, verlor sich
wieder in den Anlagen, die Rhododendren blühten. Er geriet in die
Siegesallee. Die Dynastie der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen
unverwüstlich.
Vor dem Café Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier
noch besprechen ? Es war zu spät zum Reden. Er ging weiter, kam auf die
Potsdamer Straße, stand unentschlossen auf dem Potsdamer Platz, lief
die Bellevuestraße hinauf und befand sich wieder vor dem Café. Und
jetzt trat er ein.
Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. "Ich glaubte nicht, daß du
kämst", sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vorbei. "Es war
nicht recht von mir, nicht wahr?" flüsterte sie und senkte den Kopf. Tränen
fielen in ihren Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die
Augen.
Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei Treppen, die,
barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten, waren mit vielen
bunten Papageien und Kolibris bevölkert. Die Vögel waren aus Glas. Sie
hockten auf gläsernen Lianen und Zweigen und warteten auf den Abend und
seine Lampen, damit der zerbrechliche Ur-wald zu leuchten beginne.
Cornelia flüsterte: "Warum siehst du mich nicht an?" Dann preßte
sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen klang, als wimmere weit
entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal war leer. Die Gäste saßen
draußen vor dem Haus, unter großen roten Schirmen. Nur ein
Kellner stand in der Nähe, Fabian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen
zitterten vor Aufregung. "Sprich endlich ein Wort", sagte sie mit rauher
Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er
schluckte mühsam.
"Sprich ein Wort", wiederholte sie ganz leise und faltete auf dem
Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
Er aß und schwieg.
"Was soll bloß aus mir werden?" flüsterte sie, als spreche sie zu
sich selber und er sei gar nicht mehr da. "Was soll bloß aus mir
werden?"
"Eine unglückliche Frau, der es gutgeht", sagte er viel zu laut.
"Überrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nach Berlin? Hier wird
getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat."
Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der
Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er hatte sich wieder in
der Gewalt. Sein leicht ermüdbares Gefühl gab Ruhe und wich dem Drang,
Ordnung zu schaffen. Er blickte auf das, was geschehen war, wie auf ein
verwüstetes Zimmer, und begann, kalt und kleinlich, aufzuräumen. "Du kamst
mit Absichten hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand.
Du hast einen einflußreichen Menschen gefunden, der dich finanziert.
Er finanziert dich nicht nur, er gibt dir eine berufliche Chance. Ich
bezweifle nicht, daß du Erfolg haben wirst. Dadurch verdient er das
Geld zurück, das er gewissermaßen in dich hineingesteckt hat; dadurch
wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr,
wir sind quitt." Fabian wunderte sich. Er erschrak vor sich selber und
dachte: Es fehlt nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia
betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann klappte sie die
Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr mit der
weißen stäubenden Quaste über ihr verweintes, kindlich erstauntes
Ge-sicht. Sie nickte, er möge fortfahren.
"Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart
nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht
zur Debatte. Du wirst arbeiten, und dann bleibt von einer Frau nicht viel
übrig. Der Erfolg wird sich steigern, der Ehrgeiz wird wachsen, die
Absturzgefahr nimmt zu, je höher man steigt. Wahr-scheinlich wird er nicht
der einzige bleiben, dem du dich ausliefern wirst. Es findet sich immer
wieder ein Mann, der einer Frau den Weg versperrt und mit dem sie sich
langlegen muß, wenn sie über ihn hinweg will. Du wirst dich daran
gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir."
"Ich weine schon, und er schlägt mich noch", dachte sie verwundert.
"Aber die Zukunft ist nicht mein Thema", sagte er und machte eine
abschließende Handbewegung, als erdroßle er den Gedanken. "Zu
besprechen bleibt die Vergangen-heit. Du fragtest gestern nicht, als du
gingst. Warum interessiert dich nun meine Antwort? Du wußtest,
daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das Geld verdient,
das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich
kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch."
"Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian."
Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränk-te sie, weil er
ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstraße
holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er
dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zu-rückkommen, was werde
ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche."
"Es war so schrecklich gestern", sagte sie plötzlich. "Er war so
widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun
brauchten wir keine Sorgen zu haben, und sie sind größer als zuvor.
Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?"
Er faßte ihren Arm. "Vor allem, nimm dich zusammen. Das Rezept
ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß
es wenigstens nicht um-sonst war. Und entschuldige, daß ich dich
vorhin so gekränkt habe."
"Ja, ja." Sie war noch traurig und schon wieder froh. "Und darf ich
morgen nachmittag zu dir kommen?"
"Es ist gut", sagte er.
Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn,
flüsterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon.
Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: "Sie können lachen!" Fabian
wischte mit der Hand über den Mund und ekelte sich. Was hatten Cornelias
Lippen inzwi-schen berührt? Half es ihm, daß sie sich die Zähne
geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizu-kommen?
Er überschritt die Straße und trat in den Park. Moral war die
beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln genügte nicht.
Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergangenen Nacht gewesen
war.
Er wollte nicht in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße
Gedanke an sein eigenes Zimmer, an die Neugier der Witwe Hohlfeld, an
Cornelias leere Stube, an die ganze einsame Nacht, die ihn erwartete,
während ihn Cornelia zum zweiten Mal betrog, trieb ihn durch die
Straßen, dem Norden zu, in die Müllerstraße hinein, in jenes
Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war
stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wieder hatte. "So
ist's recht", sagte sie zur Begrüßung. "Komm, du wirst Hunger haben."
Sie hatte im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der Küche", sagte
sie. "Aber wozu hat man seine Drei-zimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken
und Camembert. Plötzlich legte sie Messer und Gabel beiseite, murmelte
"Hokuspokus!" und brachte eine Flasche Mo-sel zum Vorschein. Sie schenkte
ein und stieß mit ihm an. "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es
sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!"
Sie trank das Glas leer, goß wieder ein und hatte glänzende
Augen. "So ein Glück, daß ich dich traf", sagte sie und trank weiter.
"Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals.
Da klapperten draußen die Schlüssel. Schritte kamen den Korridor
entlang. Die Tür ging auf. Ein mittelgroßer, untersetzter Mann trat
ins Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde düster. "Wünsche guten
Appetit allerseits", sagte er und näherte sich der Frau.
Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie erreicht hatte, riß sie
die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür zu und riegelte
ab.
Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich
zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz.
Ich bin der Gatte." Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne zu
sprechen. Dann nahm der Mann die Moselflasche in die Hand, betrachtete
umständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte
hinterher: "Die Züge sind
um diese Zeit schrecklich überfüllt."
Fabian nickte zustimmend.
"Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann.
"Ich mache mir nicht viel aus Weißwein", erklärte Fabian und
stand auf.
Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er.
"Ich möchte nicht länger stören", erwiderte Fabian.
Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte ihn. Fabian
gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich
und hielt die Backe.
"Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab,
spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt.
Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen? Er
fuhr nach Hause.
ACHTZEHNTES KAPITEL
Er geht aus Verzweiflung nach Hause
Was mag die Polizei wollen ?
Ein trauriger Anblick
Obwohl Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im
Korridor. Sie trug, weil es Abend war, einen Morgenrock und war
außerordentlich aufgeregt. "Ich habe meine Tür offengelassen, um Sie
zu hören", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen."
"Die Kriminalpolizei?" fragte er überrascht. "Wann war sie da?"
"Vor drei Stunden und vor einer Stunde wieder. Sie sollen sich
unverzüglich melden. Ich habe natürlich erzählt, daß Sie in der
vorigen Nacht nicht zu Hause waren und daß Fräulein Battenberg
gestern, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer geräumt hat und verschwunden
ist." Die Witwe wollte einen Schritt näherkommen, statt dessen trat sie
einen Schritt zurück. "Es ist furchtbar", flüsterte sie ergriffen, "was
haben Sie da angestellt?"
"Liebe Frau Hohlfeld", antwortete er. "Ihre Phantasie hat die Motten.
Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebes-drama mit letalem Ausgang, wie?
Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen
Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich
keine Schwachheiten ein!"
"Nun", sagte sie, "mich geht es ja nichts an." Seine Verstocktheit
kränkte sie tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei ihr, hatte sie ihn
nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal
für nötig, sein Herz auszuschütten.
"Wo soll ich mich melden?" fragte er.
Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse.
"Da haben wir's", sagte sie triumphierend. "Warum sind Sie denn so
blaß geworden?"
Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürnberger
Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sagte: "Fahren Sie, so
schnell Sie können!"
Der Wagen war alt und gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt.
Fabian zerrte das Schiebefenster auf:
"Fahren Sie doch schneller!" rief er. Dann versuchte er zu rauchen,
aber seine Hand zitterte, und der Wind blies ihm die brennenden
Streichhölzer aus. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Von
Zeit zu Zeit öffnete er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten,
Tiergarten, Tiergar-ten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder
Straßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als führen sie durch
zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser.
Universität, Staatsoper, Dom und Schloß lagen endlich im Rücken. Das
Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus. Ein
fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen. "Endlich", sagte der
fremde Mann. "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht
weiter."
Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist stand
dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhauerin. "Endlich", sagte die
Selow. Das Zimmer war demo-liert, Gläser und Flaschen lagen am Boden.
Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreib-tisch auf. "Mein
Assistent", erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf
dem Sofa lag Labude, kalkweiß, mit geschlossenen Augen, Labude hatte
ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
"Stephan", sagte Fabian leise und setzte sich neben die Leiche. Er
legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf.
"Aber Stephan", sagte er, "das macht man doch nicht." Die zwei Beamten
traten ans Fenster. "Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen",
berichtete der Kommissar. "Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über
den Inhalt, soweit es uns interessiert, zu unterrichten. Wir teilen Ihre
Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord handelt, und die fünf
jungen Da-men, die wir vorläufig in der Wohnung zurückbehalten haben,
behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber
ganz aufgeklärt scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt
haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit für
eine Bewandtnis?"
Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. "Wollen Sie so
freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen behaupten, das Zimmer sei im
Laufe einer privaten Mei-nungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor
La-bude habe damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann sei er in das
Zimmer hier gegangen."
"Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen ließ, in
einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinander. Ich vermute, es
gab eine Art von Eifer-suchtsszene zwischen ihnen", erläuterte der
Kommissar. "Sie haben, und auch das spricht gegen ihre konkrete
Mittäterschaft, sofort die Polizei verständigt und uns hier erwartet,
anstatt davonzulaufen. Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?" Fabian öffnete
das Kuvert und nahm den gefalteten Briefbogen heraus. Dabei fiel ein
Banknoten-bündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
"Wir warten nebenan", sagte der Kommissar rücksichts-voll, und sie
ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das Licht an. Dann
setzte er sich wieder und sah auf den toten Freund, dessen gelbes, in
Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau unter der Lampe lag. Der Mund war ein
wenig geöffnet, der Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen
auseinander und las: "Lieber Jakob!
Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu
erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein
Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei
abgelehnt wor-den. Der Geheimrat habe sie als völlig ungenügend
cha-rakterisiert und erklärt, sie der Fakultät weiterzugeben, halte er für
Belästigung. Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu
machen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die fünfjährige
Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit im eng-sten Kreise
begraben will.
Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich. Ich habe kein
Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über
Leda, das wir vor Tagen miteinander hatten, überzeugte mich davon. Du
hättest mich über die mikroskopische Bedeutung meines wissen-schaftlichen
Unfalls aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten
einander belogen. Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und
psycholo-gisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück,
die Universität weist mich zurück, von allen Seiten erhalte ich die Zensur
Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz
und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine histo-rische Statistik,
wie viele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche Liebhaber
waren.
Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Bespeien. Am
Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit
der Bildhauerin in meinem Bett, ein paar andere Frauenzimmer gaben
Hilfestellung. Und jetzt, während ich schreibe, schmeißen sie im
Ne-benzimmer mit Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen
augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir
nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort, wo man
mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich
haue ab. Europa wird auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat
mich nicht nötig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuhhandel
nichts ändert, er wird den Zusammenbrach nur beschleunigen oder
vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen
Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muß,
alles andere ist nutzlos. Ich habe nicht mehr den Mut, mich von den
politischen Fachleuten auslachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen
Kontinent zu Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht habe, doch
heute genügt mir das nicht mehr. Ich bin eine lächerliche Figur geworden,
ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Menschheitskandidat.
Laß mich den Kerl umbringen. Der Revolver, den ich neulich am
Märkischen Museum dem Kommuni-sten abnahm, kommt zu neuen Ehren. Ich nahm
ihn an mich, damit kein Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden
müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif.
Also, Jakob, leb wohl. Fast hätte ich ganz ernsthaft hingeschrieben:
ich werde oft an Dich denken. Aber damit ist es ja nun aus. Trag es mir
nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den
ich liebhatte, obwohl ich ihn kannte. Grüße meine Eltern, und vor
allem Deine Mutter. Wenn du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr
nicht, wie schwer mich ihr Betrug traf. Sie mag glauben, ich wäre nur
gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen.
Ich würde Dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln, aber es gibt
nichts, was der Regelung bedürfte. Die Wohnung Nummer zwei sollen meine
Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher
gehören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreib-tisch zweitausend Mark, nimm
das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen.
Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut.
Dein Stephan."
Fabian strich dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer war
noch tiefer herabgesunken. Der Mund klaffte auf. "Daß man lebt, ist
Zufall; daß man stirbt, ist gewiß", flüsterte Fabian und
lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten.
Der Kommissar öffnete leise die Tür. "Entschuldigen Sie, daß ich
schon wieder störe." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte:
"Da kann ich ja die Mädchen nach Hause schicken." Er gab den Brief zurück
und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger
aufhalten", rief er.
"Nur noch einen Augenblick", sagte eine weibliche Stim-me. "Ich habe
ein Faible für Tote." Die fünf Frauen drängten sich durch die Tür und
standen schweigend vor dem Sofa. "Man müßte ihm die Kinnlade
hochbinden", sagte schließlich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte.
Die Bildhauerin lief ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette
wieder. Sie band Labude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich
schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopfhaar zu
einem Knoten.
"Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte bösartig.
Ruth Reiter sagte: "Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier sitzt
Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein, obwohl die Ärzte
jede Hoffnung aufgegeben haben. Und dieser kräftige junge Kerl hier bringt
sich um die Ecke."
Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der Kommissar
setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen Polizeibericht. Der
Assistent kam zurück. "Ist es nicht das beste, wenn wir einen Wagen
bestellen und den Toten in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er.
Dann bückte er sich. Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen
wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
"Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?" fragte Fabian.
"Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat
Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das Hauspersonal weiß
nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert."
"Also gut", sagte Fabian. "Bringen wir ihn nach Hause!" Der Assistent
telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis
der Wagen kam. Sanitäter packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die
Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbarschaft. Die
Bahre wurde in den Wagen geschoben. Fabian setzte sich neben den
ausgestreckten Freund. Die Beamten verabschiedeten sich. Er gab ihnen die
Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian
und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin.
Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom.
Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität,
die Staatsbiblio-thek. Wie lange war das her, daß sie hier miteinander
im Autobus gefahren waren?
Am selben Abend hatten sie, draußen am Märkischen Museum, zwei
Raufbolden die Revolver abgenommen. Nun lag Labude auf der Bahre, fuhr
durchs Brandenbur-ger Tor und wußte nichts mehr davon. Zwei straffe
Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schräg.
"Denkst du nach?" fragte Fabian leise, schob Labudes Kopf auf dem
Kissen wieder zurecht und ließ die Hand dort. "Ein Toter mit
Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt.
Als das Krankenauto vor der Grunewaldvilla hielt, stand das
Dienstpersonal an der Tür. Die Haushälterin schluchzte, der Diener ging
würdevoll vor den Sanitätern her, die Mädchen folgten, ihre Füße
hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht
und auf das Sofa gelegt. Der Diener öffnete die Fenster weit.
"Die Leichenfrau kommt morgen früh", sagte die Haus-hälterin, und nun
schluchzten auch die Mädchen. Fabian gab den Sanitätern Geld. Sie
grüßten militärisch und gingen.
"Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich
habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Aber er wird es ja in der Zeitung
lesen."
"Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian.
"Jawohl", entgegnete der Diener. "Die gnädige Frau ist benachrichtigt.
Sie dürfte morgen mittag in Berlin eintref-fen, wenn ihr Zustand die Reise
gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona."
"Gehen Sie schlafen", sagte Fabian. "Ich bleibe die Nacht über hier."
Er zog einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war
allein.
In Bellinzona war Labudes Mutter jetzt? Fabian setzte sich neben den
Freund und dachte: "Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!"
NEUNZEHNTES KAPITEL
Fabian verteidigt den Freund
Ein Lessingporträt geht entzwei
Einsamkeit in Halensee
Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zusammengehalten,
es veränderte sich. Als werde das Fleisch dickflüssig und sickere allmählich
ins Körperinne-re, so traten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief
in die schwärzlichen Höhlen gesunken. Die Nasenflü-gel fielen ein und
wirkten verkniffen. Fabian beugte sich vor und dachte: "Warum verwandelst du
dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünschte, du könn-test
reden, denn ich hätte viel zu fragen, mein Lieber. Ist dir jetzt wohl? Bist
du auch jetzt noch, nachdem du starbst, damit zufrieden, daß du tot
bist? Oder bereust du, was du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was
für ewig geschah? Früher habe ich mir eingebildet, ich könne an der Leiche
eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot ist. Wie soll
man verstehen, daß jemand nicht mehr da ist, obwohl er sichtbar vor
einem liegt, mit Schlips und Kragen, im selben Anzug wie kurz vorher? dachte
ich. Wie soll man glauben, daß einer, nur, weil er zu atmen
vergaß, eine Portion Fleisch geworden ist, die man drei Tage später
achtlos verscharrt? dachte ich. Wird man, wenn das geschieht, nicht
aufschreien: Hilfe, er erstickt! Ich muß dir sagen, Stephan, ich
verstehe meine Angst, man könnte am Tod und seiner Tragweite zweifeln, nicht
mehr. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da wie eine schlecht fixierte
Fotografie von dir, die zusehends vergilbt. Man wird deine Fotografie in den
Ofen werfen, den man Krematorium nennt. Du wirst verbrennen, und niemand
wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein."
Fabian trat zum Schreibtisch und nahm aus dem gelben Holzkästchen, das
seit Jahren dort stand, eine Zigarette.
Ein Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing. "Sie
sind schuld daran", sagte Fabian zu dem Mann mit dem Zopf und zeigte auf
Labude. Aber Gott-hold Ephraim Lessing übersah und überhörte den Vor-wurf,
der ihm, hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte
ernst und höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerisches Gesicht
verzog keine Miene. "Schon gut", sagte Fabian, drehte dem Bild den Rücken
und setzte sich wieder neben den Freund.
"Siehst du", sagte er zu Labude, "das war ein Kerl", und er wies mit
dem Daumen hinter sich. "Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem
Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel ein Schleppsäbel. Der war zum
Kämpfen da, du nicht. Der lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht
privat, der wollte gar nichts für sich. Und als er sich doch auf sich
besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über
ihm zusammen und begrub ihn. Und das war in Ordnung. Wer für die anderen
dasein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein
Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer
muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber
klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?"
Fabian strich dem Freund übers Knie und schüttelte den Kopf. "Ich
wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warst ein guter Mensch, du warst ein
anständiger Kerl, du warst mein Freund, aber das, was du vor allem sein
wolltest, das warst du nicht. Dein Charakter existierte in deiner
Vor-stellung, und als die zerstört wurde, blieb nichts mehr übrig als ein
Schießeisen und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens
wird ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot, und
später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die anderen wollen es
erobern, und sie werden sich wie die Titanen ohrfeigen, und sie werden
schließlich das Sofa zerhacken, damit es keiner kriegt. Unter den
Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen
erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar
zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zweimal
hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhängen. Sollten sie
zweimal hintereinander lügen, wird man sie aufhängen. Dich hätte man nicht
einmal gehängt, dich hätte man totgelacht. Du warst kein Reformator, und du
warst kein Revolutionär. Mach dir nichts draus." Labude lag, als höre er zu.
Aber er tat nur so. Die Ansprache verhallte, Fabian wurde müde. "Warum
ge-nügte es dir nicht, schön zu finden, was schön ist?" dachte er. "Dann
hätte dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann säßest
du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest du die Augen
offen und blicktest glücklich von Sacré Cœur hinunter auf die
schimmern-den Boulevards, über denen die Luft kocht. Oder wir beide
spazierten durch Berlin. Die Bäume sind ganz frisch gestrichen, der blaue
Himmel ist mit Gold ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und
wenn die eine bei einem Filmdirektor übernachtet, sucht man sich eine
bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe dir noch gar
nicht erzählt, wie er bei mir im Schrank stand. Er hatte den Hut auf und
hielt den Schirm in der Hand, als habe er Angst, es könne im Schrank
regnen."
Fabian konnte nicht lange geschlafen haben, als er aufschreckte. Er
hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein Auto hielt vor
der Tür, der Diener kam aus dem Haus und öffnete den Schlag. Der Justizrat
stieg aus und hielt dem Diener eine Zeitung entgegen. Der Diener nickte und
zeigte zu dem Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus dem
Wagen, der Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wagen setzte
sich in Bewegung. Die Frau preßte, während das Auto sie weg-führte,
das Gesicht an die Scheibe. Der Justizrat ging ins Haus. Der Diener folgte
und hielt die Arme besorgt angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat
zu stützen.
Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht zugegen sein,
wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justizrat kam die Treppe herauf, er
klammerte sich am Geländer fest, und der alte Diener hinter ihm hielt die
Hände schützend vorgestreckt, aber Labudes Vater sank nicht um. Er ging,
ohne Fabian anzusehen, in das erleuch-tete Zimmer. Der Diener schloß
die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei. Doch es blieb
still in dem Zimmer. Fabian und der Diener standen davor, jeder auf seinem
Fleck, sie sahen einander nicht an und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft
zum Mitleid wartete auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen
nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten.
Es klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und kam wieder auf den
Korridor. "Der Herr Justizrat möchte Sie sprechen." Fabian trat ein. Der
alte Labude saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hand
gestützt. Nach einer Weile richtete er sich hoch, stand auf, um den Freund
seines Sohnes zu begrüßen und lächelte künstlich. "Ich habe keine
Beziehung zu tragischen Erlebnissen", sagte er gepreßt. "Das
bißchen Mitgefühl, das mein Egoismus zuläßt, hat durch die
vielen Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routine überhaupt
einen unechten Glanz angenommen, in dem sich alles andere eher spiegelt als
wahre Teilnahme." Er drehte sich um, betrachtete seinen Sohn, und es sah
aus, als ob er sich bei dem Toten entschuldigen wolle. "Es hat keinen Zweck,
sich Vorwürfe zu machen", fuhr er fort. "Ich war kein Vater, der für den
Sohn lebt. Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer Herr, der in das Leben
verliebt ist. Und dieses Leben verliert seinen Sinn keineswegs durch diese
Tatsache." Er zeigte mit dem vorgestreckten Arm auf die Leiche. "Er hat
gewußt, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die
anderen nicht zu weinen." "Man könnte, gerade weil Sie so nüchtern darüber
spre-chen, vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen", sagte Fabian. "Das
wäre unangebracht. Der sichtbare Anlaß für Stephans Selbstmord liegt
außerhalb unserer Sphäre." "Was wissen Sie darüber? Hat er Briefe
hinterlassen?" fragte der Justizrat.
Fabian verschwieg den Brief. "Eine kurze Notiz gab Auskunft. Der
Geheimrat hat Stephans Habilitations-schrift als ungenügend abgelehnt."
"Ich habe sie nicht gelesen. Man hat nie Zeit. War sie so schlecht?"
fragte der andere.
"Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten,
die ich kenne", erwiderte Fabian. "Hier ist sie." Er nahm eine Kopie des
Manuskripts vom Bücherbord und legte sie auf den Schreibtisch.
Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das
Telefonbuch bringen und suchte eine Nummer. "Es ist zwar sehr spät", sagte
er und ging ans Telefon, "aber das kann nichts helfen." Er bekam
Anschluß. "Kann ich den Geheimrat sprechen?" fragte er. "Dann holen
Sie die gnädige Frau an den Apparat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier
spricht Justizrat Labude." Er wartete. "Ent-schuldigen Sie die Störung",
sagte er. "Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur
Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zurück? Ich werde mir
erlauben, ihn morgen im Institut aufzusuchen. Sie wissen nicht, ob er die
Habilitationsschrift meines Sohnes schon gelesen hat?" Er hörte lange Zeit
zu, dann verabschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich
zu Fabian herum und fragte: "Verstehen Sie das? Der Geheimrat hat neulich
während des Essens gesagt, die Arbeit über Lessing sei außerordentlich
inter-essant, und er sei auf die Schlußfolgerung, also auf das Ende
der Arbeit, sehr gespannt. Von Stephans Tod scheint man noch nichts zu
wissen." Fabian sprang erregt auf. "Er hat die Arbeit gelobt? Lehnt man
Arbeiten ab, die man gelobt hat?"
"Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist
jedenfalls häufiger", antwortete der Justizrat. "Wollen Sie mich jetzt
allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde sein Manuskript lesen.
Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?" Fabian nickte und gab ihm die
Hand. "Da hängt ja die Todesursache", sagte der alte Labude und zeigte auf
das Lessingporträt. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und
zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte
er. Der Die-ner erschien. "Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster",
befahl der Justizrat. Er blutete an der rechten Hand. Fabian blickte noch
einmal auf den toten Freund. Dann ging er hinaus und ließ die beiden
allein.
Er war zu müde zum Schlafen, und er war zu müde, die Trauer
aufzubringen, die dieser Tag von ihm forderte. Der Trikotagenreisende aus
der Müllerstraße hielt sich die Backe, hieß er nicht Hetzer?
Seine Frau lag unbefriedigt im Bett, Cornelia war zum zweiten Mal bei
Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende Bilder, ohne dritte Dimension,
weit weg am Horizont seines Gedächtnisses. Und auch, daß Labude in
irgendeiner Villa draußen tot auf dem Sofa lag, beschäftigte ihn im
Augenblick nur als Gedanke. Der Schmerz war wie ein Zündholz
heruntergebrannt und erloschen. Er entsann sich aus seiner Kindheit eines
ähnlichen Zustandes: wenn er damals eines Kummers wegen, der ihm riesenhaft
und unheilbar erschien, lange Zeit geweint hatte, war das Reservoir, aus dem
der Schmerz floß, leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach
jedem seiner Herzkrämpfe, das Leben in den Fingern erstarb. Die Trauer, die
ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war kalt.
Fabian ging die Königsallee entlang. Er kam an der Rathenau-Eiche
vorbei. Zwei Kränze hingen an dem Baum. An dieser Straßenbiegung war
ein kluger Mann ermordet worden. "Rathenau mußte sterben", hatte ein
nationalsozialistischer Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. "Er mußte
sterben, seine Hybris trug die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher
Außenminister werden. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kandidierte
ein Kolonialneger für den Quai d'Orsay, das ginge genausowenig." Politik und
Liebe, Ehrgeiz und Freundschaft, Leben und Tod, nichts berührte ihn. Er
schritt, ganz allein mit sich selber, die nächtliche Allee hinunter. Über
dem Lunapark stieg Feuerwerk in den Himmel und sank in bunten feurigen
Garben zur Erde. Aber auf halbem Wege lösten sich die Garben auf, sie
verschwanden spurlos, und neue Raketen drängten krachend in die Luft. Am
Eingang zum Park hing ein Schild: "Fernando, der Weltmeister im Dauertanzen,
überbietet seinen eigenen Rekord. Er will 200 Stunden tanzen. Kein
Weinzwang." Fabian setzte sich in ein Bierlokal, dicht vor der
Eisenbahnunterführung von Halensee. Die Gespräche der Umsitzenden erschienen
ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter Zeppelin, auf dem in
großer Leuchtschrift "Trumpfschokolade" stand, flog über den Köpfen
der Stadt zu. Ein Zug mit hellen Fenstern fuhr unter der Brücke hin.
Autobusse und Straßenbahnen passierten in langer Kette die
Straße. Am Nebentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den
Kragen gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen,
kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock. "Was soll das alles?" dachte
er, zahlte rasch und ging nach Hause.
Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungs-schreiben waren
zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei, man bedauerte
hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später ertappte er sich dabei,
daß er regungs-los, mit dem Handtuch vor dem nassen Gesicht, auf dem
Sofa saß und, an der unteren Kante des Tuches vorbei, auf den Teppich
stierte. Er trocknete sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und
schlief ein. Das Licht brannte die ganze Nacht.
ZWANZIGSTES KAPITEL
Cornelia im Privatauto
Der Geheimrat weiß von nichts
Frau Labude wird ohnmächtig
Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen sah, waren ihm
die Ereignisse des Vortags nicht gegenwärtig. Er fühlte sich bedrückt und
elend, doch er wußte noch nicht, warum. Er schloß die Augen, und
erst jetzt, und nur ganz allmählich, vergegenständlichte sich sein Kummer.
Das, was geschehen war, fiel ihm ein, als werfe es jemand von draußen
her durch eine Scheibe. Er wußte wieder, was er vor Müdigkeit
vergessen hatte, und vom Bewußtsein aus sanken die Erinnerungen
tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es war, als erhöhe sich ihr
spezifisches Gewicht, und dann rollten sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er
drehte sich zur Wand und hielt sich die Ohren zu.
Frau Hohlfeld machte, als sie das Frühstück hereintrug, trotz des
brennenden Lichts, und obwohl er statt im Bett auf dem Sofa lag, keinen
Skandal. Sie setzte das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog
sämtliche Hand-lungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern üblich ist. "Ich
versichere Sie meines tiefsten Beileids", sagte sie, "ich las es vorhin in
der Zeitung. Ein harter Schlag für Sie. Und die armen Eltern." Der Ton und
die Stimmlage waren gut gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum
Aushalten.
Er überwand sich und murmelte: "Danke." Bis sie das Zimmer verlassen
hatte, blieb er liegen, dann stand er auf und fuhr in die Kleider. Er
mußte den Geheimrat spre-chen. Seit gestern abend marterte ihn ein
Verdacht, der, ohne jedes Zutun, immer quälender wurde. Er mußte in
die Universität. Als er aus dem Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen
vor und hielt.
"Fabian!" rief jemand. Es war Cornelia. Sie saß im Wagen und
winkte. Während er nähertrat, stieg sie aus. "Mein armer Fabian", sagte sie
und streichelte seine Hand. "Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und
er lieh mir den Wagen. Stör ich dich?" Dann senkte sie die Stimme. "Der
Chauffeur paßt auf." Lauter sagte sie: "Wo willst du hin?" "Zur
Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit abgelehnt worden ist.
Ich muß den Geheimrat sprechen."
"Ich bringe dich hin. Darf ich?" fragte sie. "Fahren Sie uns bitte zur
Universität", sagte sie zu dem Chauffeur, sie stiegen in den Wagen und
fuhren stadteinwärts.
"Und wie war es gestern abend bei dir?" fragte Fabian. "Sprich nicht
davon", bat sie. "Ich hatte immer das Gefühl, dir drohe ein Unheil. Makart
erzählte mir von der Rolle, die ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so
bedrängte mich meine Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter."
"Was für eine Rolle?" Auf Cornelias Vorahnungen ging er nicht ein. Er
haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine Bettdecke zu lüften, und
noch mehr haßte er den nachträglichen Stolz, schon vorher recht gehabt
zu haben. Wie plumpvertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal!
Seine Abneigung hatte damit, ob Vorah-nungen möglich seien oder nicht,
nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit dem, was noch
verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch zu sein pflegte: mit einer
Fügung in Unvermeidliches hatte das nichts zu schaffen.
"Eine sehr merkwürdige Rolle", sagte sie. "Stell dir vor, daß ich
in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um seiner verschrobenen
Phantasie Genüge zu tun, von mir verlangt, daß ich mich unablässig
verwandle. Er ist ein pathologischer Mensch und nötigt mich, bald ein
unerfahrenes Mädchen und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein
ordinäres Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf. Dabei
stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer, heraus,
daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glaube. Beide, er
und ich, werden überrascht sein, denn ich werde mich unaufhaltsam,
schließlich gegen seinen Willen, verändern und erst dadurch das
geworden sein, was ich schon immer war. Gemein und herrschsüchtig, stellt
sich heraus, bin ich im Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine
Befehle beschwor, wird er tragisch unterliegen."
"Ist der Einfall von Makart? Sieh dich vor, Cornelia, der Mann ist
gefährlich. Er wird dich diese Verwandlung zwar spielen lassen, aber
insgeheim wird er mit sich selber wetten, ob du in Wirklichkeit so wirst."
"Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen überfahren werden.
Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze Leben."
Er kramte in den Taschen, fand das Geldbündel, zählte tausend Mark ab
und gab sie Cornelia. "Da, Labude hinterließ mir das Geld. Nimm die
Hälfte. Es beruhigt mich."
"Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hätten", sagte sie.
Fabian beobachtete den Chauffeur, der fortwährend in den kleinen
konkaven Sucherspiegel blickte und sie darin überwachte. "Deine Gouvernante
wird uns noch an einen Baum fahren. Vorn ist die Musik!" schrie er, und der
Chauffeur ließ sie vorübergehend mit dem Blick los.
"Heute nachmittag komme ich ohne ihn", sagte sie. "Ich weiß
nicht, ob ich zu Hause bin", erwiderte er. Sie lehnte sich flüchtig und
schüchtern an ihn. "Ich komme auf alle Fälle, vielleicht kannst du mich
brauchen." Vor der Universität stieg er aus. Sie fuhr mit ihrem
Gefängnisinspektor weiter.
Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht da, werde
aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwartet. Ob der Assistent da sei?
Jawohl. Im Vorzimmer saßen Justizrat Labude und seine Frau. Sie sah
sehr alt aus, weinte, als Fabian sie begrüßte, und sagte: "Wir haben
uns nicht um ihn gekümmert."
"Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen", entgegnete Fabian.
"War er nicht alt genug?" fragte der Justizrat. Seine Frau schluchzte
laut auf, und er verzog die Stirn. "Ich habe heute nacht Stephans Arbeit
gelesen", erzählte er. "Ich verstehe zwar nichts von eurem Fach, und ich
weiß nicht, ob die Grundlagen der Untersuchung stimmen. Aber daß
die Folgerungen klug und scharfsinnig sind, steht außer allem
Zweifel."
"Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ordnung", meinte
Fabian. "Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur der Geheimrat käme!"
Frau Labude weinte vor sich hin. "Warum wollt ihr ihm, nun er tot ist,
die Ursache rauben, derentwegen er starb?" fragte sie. "Kommt, wir wollen
von hier fortgehen!" Sie stand auf und packte die zwei Männer. "Laßt
ihn in Frieden!"
Aber der Justizrat sagte: "Setz dich hin, Luise."
Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altväterlicher Eleganz,
außerdem standen ihm die Augen etwas zu weit aus dem Kopf. Der
Institutsdiener kletterte hinter ihm die Treppe hoch und trug einen
Handkoffer. "Das ist ja fürchterlich", erklärte der Geheimrat und ging, mit
seitlich geneigtem Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates
weinte lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war
ergriffen. "Wir kennen uns", sagte der alte Literaturhistoriker zu Fabian.
"Sie waren sein Freund." Er schloß die Tür zu seinem Zimmer auf, bat
näherzutreten, entschuldigte sich für einen Augen-blick und wusch sich,
während die anderen stumm um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer
ärztlichen Ordination. Der Diener hielt das Handtuch bereit.
Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: "Ich bin für keinen
Menschen zu sprechen." Der Diener entfernte sich, der Geheimrat nahm Platz.
"Ich kaufte mir heute morgen in Naumburg eine Zeitung", berichtete er, "und
das erste, was ich las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres
Sohnes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an Sie
stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu diesem äußersten
Schritt bewogen?"
Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur Faust.
"Können Sie sich das nicht denken?" Der Geheimrat schüttelte den Kopf. "Ich
habe nicht die geringste Ahnung."
Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft. Ihr Blick bat
die Männer, innezuhalten. Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. "Mein
Sohn hat sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben."
Der Geheimrat zog das seidene Tuch aus der Tasche und fuhr sich damit
über die Stirn. "Was?" fragte er tonlos. Er stand auf und starrte aus seinen
vorgewölbten Augen die Umsitzenden an, als befürchte er, sie seien
wahnsinnig.
"Aber das ist ja gar nicht möglich", flüsterte er.
"Doch, es ist möglich!" rief der Justizrat. "Nehmen Sie Ihren Mantel,
kommen Sie mit, sehen Sie sich unseren Jungen an! Auf dem Sofa liegt er und
ist so tot, wie man nur sein kann."
Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen Augen und sagte:
"Sie töten ihn zum zweiten Male."
"Das ist ja grauenhaft", murmelte der Geheimrat. Er packte den Arm des
Justizrates. "Ich hätte die Arbeit abgelehnt? Wer hat das behauptet? Wer hat
das behaup-tet?" rief er. "Ich habe die Arbeit mit dem Bemerken bei der
Fakultät in Umlauf gesetzt, daß sie die reifste literarhi-storische
Leistung der letzten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum geschrieben,
Doktor Stephan Labude könne, infolge dieser Arbeit, auf das lebhafteste
Interesse der Fachkreise Anspruch erheben. Ich habe geschrieben, Doktor
Labude leiste mit diesem Beitrag zur Aufklärung der modernen Forschung
unschätzbare Dienste. Ich habe geschrieben, noch nie sei mir aus
Schülerkreisen eine Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden und ich
ließe sie in der Schriftenreihe als Sonderdruck erschei-nen. Wer hat
behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt worden?"
Labudes Eltern saßen regungslos.
Fabian zitterte am ganzen Körper. "Einen Augenblick", sagte er heiser,
"ich hole ihn." Dann rannte er hinaus, die Treppe hinunter, ins
Katalogzimmer. Doktor Weckherlin, der wissenschaftliche Gehilfe des
Instituts, saß über eine Kartothek gebückt und ordnete Kärtchen ein,
auf denen die Neuanschaffungen der Bibliothek verzeichnet waren. Er blickte
ungehalten hoch und kniff die kurz-sichtigen Augen zusammen. "Was wollen
Sie?" fragte er.
"Sie sollen sofort zum Geheimrat kommen", sagte Fa-bian, und als der
andere keine Anstalten traf, sondern bloß nickte und in der Kartothek
zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kragen, zerrte ihn vom Stuhl und
stieß ihn zur Tür hinaus.
"Was erlauben Sie sich eigentlich?" fragte er. Aber Fa-bian schlug ihm,
statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht. Weckherlin hob den Arm, um
sich zu schützen, und stolperte, ohne länger zu widersprechen, die Treppe
hinauf. Vor dem Zimmer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian
riß die Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusammen. Der
Assistent blutete aus der Nase.
"Ich muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn
richten", sagte Fabian. "Doktor Weckherlin, ha-ben Sie gestern mittag meinem
Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abgelehnt worden? Haben Sie erzählt,
der Geheimrat habe geäußert, die Arbeit der Fakultät weiterzugeben,
heiße die Professoren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat
wolle ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche
Blamage er-sparen?"
Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Keiner der Männer
kümmerte sich um sie. Weckherlin war bis zur Tür zurückgewichen. Die drei
anderen Män-ner standen vorgeneigt und warteten auf Antwort.
"Weckherlin", flüsterte der Geheimrat und stützte sich schwer auf die
Stuhllehne.
Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er lächeln,
er öffnete wiederholt den Mund. "Wird's bald?" fragte der Justizrat drohend.
Weckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: "Es war nur ein
Scherz!"
Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang wie der
Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er vor und schlug auf den
Assistenten ein, mit beiden Fäusten, unablässig, ohne zu überlegen, wohin er
traf. Besinnungslos, wie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer
wieder. "Du Schuft!" brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste mitten ins
Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle er sich entschuldi-gen.
Er hatte vergessen, daß er die Hand auf der Klinke hielt und aus dem
Zimmer fliehen wollte. Er sank unter den Schlägen vorübergehend in die Knie.
Er zog sich an der Klinke wieder hoch, die Tür schnappte auf. Jetzt erst
besann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch die Tür auf den Korridor,
Fabian folgte ihm, sie näherten sich, Schritt für Schritt, der Treppe, die
ins Untergeschoß führte, der eine schlug, der andere blutete.
Unten am Fuß der Treppe sammelten sich Studenten, die der Lärm
aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie standen stumm und abwartend, als
spürten sie, was dort oben geschah, sei gerecht. "Du Hund!" sagte Fabian und
traf den Assistenten unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlug dumpf
mit dem Kopf auf eine Stufe und rollte klappernd die Holztreppe hinunter.
Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn stürzen. Da sprangen ein
paar Studenten vor und hielten ihn fest. "Laßt mich los!" schrie er
und riß wie ein Tobsüchtiger an den Armen, die ihn umklammerten.
"Laßt mich los, ich schlag ihn tot!" Jemand hielt ihm den Mund zu. Der
Institutsdiener kniete neben dem Assistenten. Der ver-suchte sich
aufzurichten, sank aber stöhnend zurück. Man schleppte ihn ins
Katalogzimmer.
Im Obergeschoß, dicht an der Treppe, standen der Ge-heimrat und
Labudes Vater. Durch die geöffnete Tür vernahm man langgezogene Klagelaute,
Stephans Mutter war aus der Ohnmacht erwacht.
"Ach so, es war nur ein Scherz!" rief der Justizrat und lachte
verzweifelt.
Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Ausweg gefunden:
"Doktor Weckherlin ist entlassen." Die Studenten gaben Fabian frei, er
senkte den Kopf, vielleicht bedeutete es einen Abschiedsgruß, und
verließ das Institut.
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Juristin wird Filmstar
Eine alte Bekannte
Die Mutter verkauft Schmierseife
Es war nur ein Scherz gewesen!
Herr Weckherlin hatte einen dummen Witz gemacht, und Labude war daran
gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbstmord gewesen. Ein Subalternbeamter
des Mittel-hochdeutschen hatte den Freund umgebracht. Er hatte ihm
vergiftete Worte ins Ohr geträufelt, wie Arsenik ins Trinkglas. Er hatte,
zum Spaß, auf Labude gezielt und abgedrückt. Und aus der ungeladenen
Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen.
Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, immer noch
Weckherlins feig lächelndes Gesicht vor Augen, und er fragte sich
nachträglich überrascht: Warum habe ich auf den Kerl eingeschlagen, als
müsse alles vernichtet werden? Warum war meine Wut auf ihn größer als
die Trauer über Labudes unsinniges Ende? Verdient ein Mensch, der, wie
jener, unabsichtlich solches Unheil anstiftet, nicht eher Mitleid als
Haß?
Wird er jemals wieder ruhig schlafen können?
Fabian verstand allmählich seinen Instinkt. Weckherlin hatte es nicht
absichtlich getan. Er hatte Labude treffen wollen, nicht töten, aber
verwunden. Der talentlose Kon-kurrent hatte sich am Begabten gerächt. Seine
Lüge war eine Sprengkapsel gewesen. Er hatte sie in Labude hineingeworfen
und war davongelaufen, um, aus sicherer Ent-fernung, schadenfroh die
Explosion zu beobachten.
Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war er auch. Aber wäre es
nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht verloren und die Schläge
nicht erhalten? Wäre es nicht besser gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn
Labude schon einmal tot war, weitergelebt? Gestern hatte ihn der Tod des
Freundes mit Traurigkeit beseelt, heute erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die
Wahrheit war an den Tag gekommen, wem war damit gedient? Labudes Eltern
etwa, die nun endlich wußten, daß ihr Sohn das Opfer einer
Infamie geworden war? Bevor sie erfuhren, was die Wahrheit war, hatte es
keine Lügen gegeben. Nun hatte die Gerechtigkeit gesiegt, und aus dem
Selbstmord wurde nachträglich ein tragischer Witz. Fabian dachte an Labudes
Begräbnis, und ihn schauderte: Er sah sich schon im Trauergefolge, am Sarg
erkannte er Labudes Eltern, auch der Geheimrat war in der Nähe, und Labudes
Mutter schrie laut auf. Sie riß sich den schwarzen Kreppschleier vom
schwarzen Hut und sank jammernd vornüber.
"Obacht!" sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestoßen und stand
still. Hätte er die Sache mit Weckherlin vertu-schen sollen, statt sie
aufzuklären? Hätte er die Kenntnis des wahren Sachverhalts in sich
einschließen sollen, um die Eltern davor zu bewahren? Warum war Labude
bis in seine letzten Briefe so gründlich, warum war er so ord-nungsliebend
gewesen? Warum hatte er sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter.
Er bog in die Leipziger Straße ein. Es war Mittag. Die Angestellten
der Büros und die Verkäuferinnen umdrängten die Haltestel-len und stürmten
die Autobusse, die Eßpause war kurz.
Wenn dieser Weckherlin nicht dazwischengekommen wä-re, wenn Labude
erfahren hätte, wie seine Arbeit wirklich eingeschätzt wurde, wäre er jetzt
nicht gestorben, mehr noch, der Erfolg hätte ihn befeuert, hätte ihm die
Enttäu-schung mit Leda erleichtert und seinem politischen Ehr-geiz Luft
gemacht. Warum hatte er denn an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selbst
hatte er beweisen wollen, daß er leistungsfähig war. Er hatte mit
diesem Erfolg gerechnet, er hatte ihn psychologisch abwägend in seine
Entwicklung einkalkuliert, und die Kalkulation war rich-tig gewesen. Und
doch hatte er Weckherlins Lüge eher geglaubt als seiner eigenen Überzeugung.
Nein, Fabian wollte nicht dabei sein, wenn man den Freund ins Jenseits
beförderte. Er mußte fort aus dieser Stadt. Er starrte auf eines der
vorüberfahrenden Autos. War es nicht Cornelia? Dort neben dem dicken Mann?
Sein Herz setzte aus. Sie war es nicht. Er mußte fort, keine zehn
Pferde hielten ihn länger.
Er ging zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Witwe Hohlfeld, er
ließ in deren Zimmer alles, wie es stand und lag, stehen und liegen.
Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen eitlen, verlogenen Menschen. Er
ging zum Bahnhof. Der D-Zug ging in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine
Fahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setz-te sich in den Wartesaal und
durchflog die Blätter.
Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkommen großen
Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schönrederei? Oder begriff man
allmählich, was alle wußten? Erkannte man, daß die Vernunft das
vernünftig-ste war? Vielleicht hatte Labude recht gehabt? Vielleicht war es
wirklich nicht nötig, auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu
warten? Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war,
tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War die
morali-sche Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie sinn-los war? War
die Frage der Weltordnung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung?
Labude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In seine Pläne hätte es
sich eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des Freundes Gedanken
und blieb apathisch. Woll-te er die Besserung der Zustände? Er wollte die
Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er
wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hüh-ner in den Topf, er wünschte jedem
sein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile,
für jeden Tag der Woche eins. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts
anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde
gut, wenn es ihm gutginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder
und der Kohlengruben wahre Engel sein!
Hatte er nicht zu Labude gesagt: "Noch in dem Paradies, das du
erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen?"
War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durch-schnittseinkommen pro
Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß?
Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die
Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit
langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen
Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde
dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in
der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut
vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum
Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen
Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher
erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regula-tive
Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen?
War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten:
"Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!" Dieses Versprechen war
lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahr-machte. Was finge die
bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt
brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte
marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht
schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn
er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu
gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten. Im Feuilleton des
Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder.
"Juristin wird Filmstar", stand groß unter dem Foto. "Fräulein Dr.
jur. Cornelia Battenberg", war weiterhin zu lesen, "wurde von Edwin Makart,
dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten
Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film "Die Masken der Frau Z"."
"Alles Gute", flüsterte Fabian und nickte dem Bild zu. In der anderen
Zeitung sah er sie noch einmal. Sie trug einen imposanten Sommerpelz und
saß in dem Auto, das er schon kannte, am Steuer. Neben ihr hockte ein
dicker, großer Mensch, anscheinend der Entdecker persönlich. Die
Unterschrift bestätigte die Vermutung. Der Mann wirkte brutal und
verschlagen, wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung. Edwin Makart, der Mann
mit der Wün-schelrute, wurde vom Redakteur behauptet; seine neueste
Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie repräsentiere als ehemaliger
Referendar einen neuen Modetyp, die intelligente deutsche Frau.
"Alles Gute", wiederholte Fabian und starrte auf das Foto. Wie lange
war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachte er ein Grab. Eine
unsichtbare gespenstische Schere hatte sämtliche Bande, die ihn an diese
Stadt fesselten, zerschnitten. Der Beruf war verloren, der Freund tot,
Cornelia in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen?
Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, verwahrte die
Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen fort. Nichts hielt ihn
zurück, er verlangte dorthin, woher er gekommen war: nach Hause, in seine
Vaterstadt, zu seiner Mutter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin,
obwohl er noch immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er
wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er
auf, durch-schritt die Sperre und setzte sich in den Zug, der auf das Signal
zur Abfahrt wartete.
Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur
fort!
Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und Wiesen
schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Tele-graphenstangen machten
Kniebeugen. Manchmal standen kleine barfüßige Bauernkinder mitten in
der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein
Pferd. Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf. Dann
fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stämme waren von grauen
Flechten bewachsen. Die Bäume standen da, als seien sie aussätzig und als
habe man ihnen verboten, den Wald zu verlassen. Ihm war, als suche jemand
seine Augen. Er wandte sich um und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden,
gleichgülti-ge, gleichgültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäf-tigt.
Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte
sie.
Er trat hinaus.
"Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen", sagte sie. "Wo
fährst du hin?"
"Nach Hause."
"Sei höflich", meinte sie. "Frage mich gefälligst, wo ich hin will."
"Wo wollen Sie hin?" Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich türme.
Einer der Schlafburschen hat mein Etablissement verpfiffen. Ich erfuhr es
heute morgen von einem Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt ich verdoppelt
habe. Kommst du mit nach Budapest?"
"Nein", sagte er.
"Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest
zu fahren. Wollen wir über Prag nach Paris? Wir werden im Claridge wohnen.
Oder wir gehen nach Fontainebleau und mieten eine kleine Villa."
"Nein", sagte er. "Ich fahre nach Hause."
"Komm mit", bat sie. "Ich habe Schmuck bei mir. Wenn wir blank sind,
erpressen wir die alten Schachteln, die sich bei mir beschlummern
ließen. Ich kenne interessante Einzelheiten, Gucklöcher haben ihr
Gutes. Oder willst du lieber nach Italien? Was hältst du von Bellagio?"
"Nein", sagte er, "ich fahre zu meiner Mutter."
"Du verdammter Esel", flüsterte sie ärgerlich. "Soll ich vor dir
niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was hast du gegen mich? Bin
ich dir zu aufgeklärt? Ist dir eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich
satt, nach der ersten besten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir begegnen
einander immer wieder. Das kann kein Zufall sein." Sie faßte seine
Hand und streichelte seine Finger. "Ich bitte dich, komm mit."
"Nein", sagte er. "Ich komme nicht mit. Reisen Sie gut." Er wollte
wieder in sein Abteil.
Sie hielt ihn zurück. "Schade, jammerschade. Vielleicht ein andres
Mal." Sie öffnete ihre Handtasche. "Brauchst du Geld?" Sie wollte ihm ein
paar Banknoten m die Hand stecken. Er schloß die Hand zur Faust,
schüttelte den Kopf und ging ins Kupee.
Sie blieb noch eine Weile vor der Tür des Abteils und sah ihn an. Er
blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf.
Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem Bahnhof
und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie musterte ihn von oben
herunter: Warum holt dich heute niemand ab und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endlos
langer Güterzug ratterte drüber hin, die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in
dem früher der Lehrer Schanze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die
anderen Häuser standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit Kindheit
bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder gehörte, war ein
neues Geschäft eröffnet worden, ein Fleischer-laden, noch standen die
Blumenstöcke im Schaufen-ster.
Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war. Wie vertraut
ihm die Straße war. Er kannte die Fassade, er kannte die Höfe, Keller
und Böden, überall war er hier beheimatet. Aber die Menschen, die aus den
Häusern traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. "Seifengeschäft" stand
über dem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster. Er las: "Nun auch Feinseifen
herab-gesetzt. Hausmarke Lavendel zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige.
Torpedoseife fünfundzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige." Er ging bis zur
Tür.
Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen davor.
Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket Waschpulver auf den
Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kernseife mittendurch. Dann nahm sie
einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem
Faß, wog sie ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis
auf die Straße.
Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die alte Frau
sah auf und ließ erschrocken die Hän-de sinken.
Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: "Mutter, Labude hat
sich erschossen." Und plötzlich liefen ihm die Tränen aus den Augen. Er
öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer führte, schloß sie wieder,
setzte sich in den Lehnstuhl vorm Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte
langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Besuch in der Kinderkaserne
Kegelschieben im Park
Die Vergangenheit biegt um die Ecke
"Was hat er denn?" fragte der Vater am nächsten Morgen.
"Seine Stellung hat er verloren", sagte die Mutter. "Und sein Freund
hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg
kennenlernte."
"Ich wußte gar nicht, daß er einen Freund hatte", meinte
der Vater. "Man erfährt ja nichts."
"Du hörst nur nicht zu", sagte die Mutter. Da läutete die Ladenglocke.
Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung.
"Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt", fuhr sie
fort. "Aber darüber spricht er sich nicht näher aus. Sie hat Rechtsanwalt
studiert und geht zum Film."
"Schade um das Geld fürs Studium", erklärte der Mann.
"Ein hübsches Mädchen", sagte Fabians Mutter. "Aber sie lebt mit einem
dicken Kerl zusammen, einem Filmdi-rektor, das reinste Brechmittel."
"Wird er lange hierbleiben?" fragte der Vater.
Die Mutter zuckte die Achseln und goß sich Kaffee ein. "Tausend
Mark hat er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es
aufheben. Der Junge hat einen Knacks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen.
Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin.
Er glaubt nicht an Gott, es muß damit zusammenhängen. Ihm fehlt der
ruhende Punkt."
"Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet",
sagte der Vater.
Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Garnisonskirche und
den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreute Platz vor der Kirche war leer.
Wann war das denn gewesen, daß er hier gestanden hatte, ein Soldat
unter Tausenden, die Hosen lang, den Helm auf dem Kopf, gerüstet zur
feldgrauen Predigt, siebzehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott
seinen Armeen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen
Fußartilleriekaserne stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe.
Antreten zum Dienstverle-sen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst,
Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf diesem blöden
Hof geschehen. Hatte er hier nicht gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie
zum dritten und vierten Male feldmarschmäßig abgeführt wurden,
mitein-ander um ein Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück
sein werde? Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian
ließ das Gitter los und ging weiter an den alten protzigen Grenadier-
und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park und die Schule, in der er
jahrelang gesessen und gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr
und Lafettenschwanz bekanntgemacht wurde. Die Straße, die sich zu der
Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlanggerannt, nach Hause,
zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder
Kirche, an der Peripherie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne
gewesen.
Noch immer lag das große, graue Gebäude mit den schiefergedeckten
spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt.
Die Fenster der Direktionswohnung waren noch immer mit weißen
Gar-dinen geziert, im Gegensatz zu den vielen schwarzen schmucklosen
Fenstern, hinter denen die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die
Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer geglaubt, das
riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in
die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß
hier Gardinen an den Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die
Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stimmen. Der
leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und
Klavier-spiel. Fabian verschmähte die breite Freitreppe, er kletter-te im
Seitenflügel die schmalen Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm
entgegen.
"Heinrich", rief der eine, "du sollst sofort zum Storch kommen und die
Hefte holen."
"Der wird's wohl erwarten können", sagte Heinrich und ging krampfhaft
langsam durch die schwankende Glastür.
"Der Storch", dachte Fabian, "es hat sich nichts geän-dert." Dieselben
Lehrer waren noch da, die Spitznamen waren geblieben. Nur die Schüler
wechselten. Ein Jahr-gang nach dem ändern wurde erzogen und gebildet. Früh
läutete der Hausmeister. Die Jagd begann: Schlafsaal, Waschsaal,
Schrankzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch, holten die
Butterdosen aus dem Eis-schrank und die emaillierten Kaffeekannen aus dem
Auf-zug. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Staubwischen, Klassenzimmer,
Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die
Jagd ging weiter: Freizeit, Gartendienst, Fußballspiel, Wohnzimmer,
Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch
fürs Abendbrot. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal,
Schlafsaal. Die Primaner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten
im Park Zigaretten. Es hatte sich nichts geändert, nur die Jahrgänge
wechselten.
Fabian stand in der dritten Etage und öffnete die Tür zur Aula.
Morgenandacht, Abendandacht, Orgelspiel, Kai-sers Geburtstag, Sedanfeier,
Schlacht bei Tannenberg, Fahnen im Turm, Osterzensuren, Entlassung der
Einbe-rufenen, Eröffnung der Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder Orgelspiel
und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit
hatte sich in der Atmosphäre dieses Raumes festgebissen. Ob es noch so wie
früher war, daß man, kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte?
Mittwochs gab es zwei und sonn-abends drei Stunden Ausgang. Ob man immer
noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom Inspektor angehalten wurde,
Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpapiere zu verwandeln? War es denn
nicht auch manchmal schön gewesen? Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die
hier umging, und die böse heimliche Gewalt, die aus ganzen
Kindergenerationen gehorsame Staatsbe-amte und bornierte Bürger machte? Es
war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und
stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und Schlafsälen hinauf. In
langer Front standen die eisernen Bettstellen. An den Wänden hingen die
Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren
die Primaner aus dem Park herausgekommen und hatten sich zu erschrockenen
Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Kleinen hatten ge-schwiegen.
Ordnung mußte sein. Er trat ans Fenster. Unten im Flußtal
schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen.
Wie oft war er, wenn die anderen schliefen, hierher geschlichen, hatte
hinabgeblickt und das Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag. Wie oft
hatte er den Kopf gegen die Scheiben gepreßt und das Weinen
unterdrückt. Es hatte ihm nichts geschadet, das Gefängnis nicht und das
unterdrückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn nicht
kleingekriegt. Ein paar hatten sich erschos-sen. Es waren nicht viele
gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch
etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen
hinunter, verließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen
und Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Handwagen
hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und Papier, das herumlag,
aufgespießt. Der Park war groß, er senkte sich zu einem kleinen
Bach hinab.
Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf eine
Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und wehrte sich
vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zurückverwandelte. Die
Säle und Zimmer und Bäu-me und Beete, die ihn umgaben, waren keine
Wirklichkeit, sondern Erinnerungen. Hier hatte er seine Kindheit
zurückgelassen, und nun fand er sie wieder. Sie sank von den Zweigen und
Wänden und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er schritt
immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die
Kegel standen schußfertig. Fabian sah sich um, er war allein, da nahm
er eine große Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ
die Kugel über die Bahn rollen. Sie machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn
war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um.
"Was soll denn das?" fragte jemand ärgerlich. "Fremde haben hier nichts
zu suchen!" Es war der Direktor. Er hatte sich kaum verändert. Sem
assyrischer Bart war nur noch grauer geworden.
"Entschuldigen Sie", sagte Fabian, zog den Hut und wollte sich
entfernen.
"Einen Augenblick", rief der Direktor. Fabian drehte sich um. "Sind Sie
nicht ein ehemaliger Schüler von uns?" fragte der Mann. Dann streckte er die
Hand aus. "Natür-lich, Jakob Fabian! Herzlich willkommen! Das ist nett.
Haben Sie Sehnsucht nach Ihrer alten Schule gehabt?" Sie begrüßten
sich.
"Eine böse Zeit", sagte der Direktor. "Eine gottlose Zeit. Die
Gerechten müssen viel leiden."
"Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse."
"Sie sind immer noch der alte", meinte der Direktor. "Sie waren immer
einer der besten Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es
damit gebracht?"
"Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewilligen",
sagte Fabian.
"Arbeitslos?" fragte der Direktor streng. "Ich hatte mehr von Ihnen
erwartet."
Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", er-klärte er.
"Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor.
"Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da."
"Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da", entgegnete Fabian erregt.
"Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann Ihnen verraten, daß die
Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo
ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier, in diesem Haus,
merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von
der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?"
Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Gehrocks und
sagte: "Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie. Gehen Sie hin und
bilden Sie Ihren Charakter, junger Mensch! Wozu haben wir Geschichte
getrieben? Wozu haben wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre
Persönlichkeit ab!"
Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn und
lächelte. Dann sagte er: "Sie mit Ihrer abgerun-deten Persönlichkeit!" und
ging.
Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sie kam mit zwei Kindern
daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß er sie
überhaupt erkannte. "Jakob!" rief sie und wurde rot. "Du hast dich gar nicht
verändert. Sagt dem Onkel guten Tag!" Die Kinder gaben ihm die Hand und
machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sahen ihrer Mutter ähnlicher als
sie sich selber.
"Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet", sagte er. "Wie
geht's dir? Wann hast du geheiratet?"
"Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus", erzählte sie. "Da kann man
keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht.
Vielleicht geht er mit Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt,
fahre ich mit den Kindern nach." Er nickte und betrachte-te die beiden
kleinen Mädchen.
"Damals war es schöner", sagte sie leise. "Weißt du noch, wie
meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt. Wie die Zeit
vergeht." Sie seufzte und strich den kleinen Mädchen die Matrosenkragen
glatt. "Ehe man recht dazu kommt, sein eigenes Leben zu haben, trägt man
schon wieder Verantwortung für sei-ne Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht
einmal an die See."
"Das ist natürlich schrecklich", meinte er.
"Ja", sagte sie, "da wollen wir mal gehen. Auf Wiederse-hen, Jakob."
"Auf Wiedersehen."
"Gebt dem Onkel die Hand!"
Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die Mutter und
zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Weile stehen. Die Vergangenheit
bog um die Ecke, mit zwei Kindern an der Hand, fremd geworden, kaum
wiederzuerkennen. "Du hast dich gar nicht verändert", hatte die
Vergangenheit zu ihm gesagt.
"Wie war's?" fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittagessen, im
Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
"Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch. Und dann
habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt."
Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt hatte. "Die
Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch
damals zwei Tage nicht nach Hause."
"Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtä-gigen
Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich löste meine Aufgabe
sehr gewissenhaft und mit wahr-haft sittlichem Ernst."
"Ich war damals in Sorge", sagte die Mutter. "Aber ich schickte dir
doch eine Depesche!" "Depeschen sind etwas Unheimliches", erklärte sie.
"Über eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu
öffnen." Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. "Wäre es nicht
besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?" fragte sie. "Gefällt es dir
gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier sind auch
die Mädchen netter und nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine
Frau."
"Ich weiß noch nicht, was ich mache", sagte er. "Es kann sein,
daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betätigen. Ich
will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich keines finde, erfinde
ich eines. So geht es nicht weiter."
"Zu meiner Zeit gab es das nicht", behauptete sie. "Da war
Geldverdienen ein Ziel und Heiraten und Kinder-kriegen."
"Vielleicht gewöhne ich mich daran", meinte er. "Wie sagst du immer?"
Sie hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: "Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier."
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Pilsner Bier und Patriotismus
Türkisches Biedermeier
Fabian wird gratis behandelt
Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah
er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken konnte, kannte:
das ehemalige Schloß, die ehemalige königliche Oper, die ehemalige
Hofkirche, alles war hier wunderbar und ehemalig. Der Mond rollte ganz
langsam von der Spitze des Schloß-turms, als gleite er auf einem
Draht. Die Terrasse, die sich am Flußufer erstreckte, war mit alten
Bäumen und ehrwürdigen Museen bewachsen. Diese Stadt, ihr Leben und ihre
Kultur befanden sich im Ruhestand. Das Panorama glich einem teuren
Begräbnis. Auf dem Altmarkt traf er Wenzkat. "Nächsten Freitag ist
Klassenzusammenkunft im Ratskeller", erzählte Wenzkat. "Bist du dann noch
hier?"
"Ich hoffe", sagte Fabian. "Wenn es irgend geht, erscheine ich." Er
wollte rasch weiter, aber der andere lud ihn ein. Seine Frau sei seit
vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen
zu Gaßmeier und tranken Pilsner.
Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. "So geht das nicht
weiter", schimpfte er. "Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht.
Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das
ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf."
"Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt", sagte Fabian.
"Es kommt gleich zur Verzweiflung."
"Vielleicht hast du recht", rief Wenzkat und schlug auf die
Tischplatte. "Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!"
"Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist", wandte Fabian
ein. "Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den
Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten
Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"
"So war es immer in der Weltgeschichte", sagte Wenzkat entschieden und
trank sein Glas leer. "Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die
Weltgeschichte!" rief Fabian. "Man schämt sich, derglei-chen zu lesen, und
man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum
muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das
konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen."
"Du bist kein Patriot", behauptete Wenzkat. "Und du bist ein
Hornochse", rief Fabian. "Das ist noch viel bedauerlicher."
Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichts-halber das
Thema.
"Ich habe einen glänzenden Einfall", meinte Wenzkat. "Wir gehen ein
bißchen ins Bordell."
"Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetz-lich verboten."
"Freilich", sagte Wenzkat. "Verboten sind sie, aber es gibt noch
welche. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du wirst dich
amüsieren."
"Ich denke gar nicht daran", erklärte Fabian.
"Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das übrige ist
fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau
keinen Kummer mache."
Das Haus lag in einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich,
als sie davorstanden, daß hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien
gefeiert hatten. Das war zwan-zig Jahre her. Das Haus sah unverändert aus.
Wenn alles gutging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenz-kat läutete.
Im Haus näherten sich Schritte. Ein Auge blickte starr durchs Guckloch. Die
Tür ging auf. Wenz-kat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer. Sie traten
ein.
Sie gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß murmelte,
und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die Haushälterin erschien
und sagte: "Guten Tag, Gustav, läßt du dich auch wieder mal bei uns
blicken?"
"Flasche Sekt!" rief Wenzkat. "Ist die Lilly noch bei euch?"
"Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich. Nehmt
Platz!"
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem
Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes Licht. Die Wände waren
getäfelt und mit ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und
zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
"Anscheinend schlechter Geschäftsgang", sagte Fabian.
"Kein Mensch hat Geld", erklärte Wenzkat. "Außerdem hat sich die
Branche überlebt."
Dann traten drei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten den
Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die Szene. Die
Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief "Prost!", und man
trank.
"Lotte", sagte Wenzkat, "zieht euch aus!"
Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. "Gut", erklärte sie und
ging mit den anderen aus dem Zimmer. Eine Minute später kamen sie nackt
zurück und setzten sich zwischen die Gäste.
Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf Lottes
Hinterteil. Sie kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Beschwörungen
murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden.
Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten Frauen am
Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. "Ist hier immer so wenig los?" fragte
er.
"Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht", sagte die Blondine
und spielte nachdenklich mit ihren Brust-warzen. "Da hatte ich an einem Tag
achtzehn Männer. Aber sonst ist es zum Sterben langweilig." "Wie im
Kloster", meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher.
"Noch eine Flasche?" fragte die Haushälterin.
"Ich glaube nicht", sagte er. "Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt."
"Ach Quatsch!" rief die Blondine. "Gustav hat Geld genug.
Außerdem hat er hier Kredit." Die Haushälterin entfernte sich, um die
zweite Flasche zu holen.
"Kommst du zu mir rauf?" fragte die Blondine.
"Ich bemerkte schon ganz richtig, daß ich kein Geld habe", sagte
er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte.
"Es ist zum Verzweifeln", rief die Blondine. "Bin ich dazu in den Puff
gegangen, daß ich wieder zuwachse? Komm, bring das Geld in den
nächsten Tagen vorbei!" Er lehnte ab.
Wenig später kam Wenzkat wieder aus dem Zimmer und placierte sich neben
die Blondine. "Jetzt brauchst du dich auch nicht zu mir zu setzen", sagte
sie beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sie hielt mit beiden Händen ihre
Sitzfläche. "So ein Schwein!" jammerte sie. "Immer diese Prügelei! Jetzt
kann ich wieder drei Tage nicht sitzen."
"Da hast du noch zehn Mark", sagte Wenzkat. Sie steckte das Geld in den
Halbschuh, und er schlug ihr, während sie sich bückte, wieder hintendrauf.
Sie machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen.
"Setz dich hin!" befahl er. Dann legte er den Arm um die Hüfte der
Blondine und fragte: "Na, wollen wir?"
Sie betrachtete ihn prüfend und sagte: "Aber geprügelt wird bei mir
nicht. Ich bin für die richtige Machart."
Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran.
"Ich sollte auf dich Obacht geben", meinte Fabian.
"Ach, Mensch", sagte der andere, "wer Sorgen hat, hat auch Likör." Dann
folgte er der Frau.
Die Haushälterin brachte die zweite Flasche und schenkte ein. Lotte
schimpfte auf Wenzkat und zeigte die Striemen. Die kleine Dunkelhaarige
zupfte Fabian an der Jacke und flüsterte: "Komm mal mit in mein Zimmer." Er
sah sie an, ihre Augen waren groß und ernst auf ihn gerichtet. "Ich
will dir was zeigen", erklärte sie ruhig, und dann gingen sie zusammen
hinaus. Das Zimmer der kleinen nackten Person war genauso türkisch und
geschmacklos eingerich-tet wie der Salon, aus dem sie kamen. Das Bett war
über und über geblümt und mit Spitzen besät. Die Bilder an der Wand waren
sehr lächerlich. Ein elektrischer Ofen er-wärmte die Luft. Das Fenster war
offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor.
Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn und
streichelte sein Gesicht.
"Was wolltest du mir denn zeigen?" fragte er. Sie zeigte nichts. Sie
sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich auf den Rücken. "Ich
habe doch aber kein Geld", sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm
die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich
zu rühren.
Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu ihr. Sie
umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin und ihre Augen hingen
ernst an seinem Gesicht. Er wurde verlegen, als habe er eine Jungfer zur
Leichtfertigkeit überredet. Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich
ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen Chemikalien
in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit.
Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und
war müde. Sie tranken die Flasche leer und verabschiedeten sich. Fabian
drückte der kleinen Dunkel-haarigen zwei Zweimarkstücke in die Hand. "Ich
habe nicht mehr bei mir", sagte er leise. Sie sah ihn ernst an. Dann gingen
alle miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde wieder laut, er war beschwipst.
Plötzlich spürte Fabian eine Hand in seiner Tasche. Als er auf der
Straße stand, griff er in die Tasche und fand seine zwei
Zweimarkstücke wieder.
"Hältst du das für möglich?" fragte er den anderen. "Ich habe der
Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir das Geld wieder
zugesteckt."
Wenzkat gähnte laut und sagte: "Wo die Liebe hinfällt. Sie hat es
wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du zur
Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts erzählst! Und
vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller." Dann ging er.
Fabian machte noch einen Spaziergang. Die Straßen wa-ren kaum
besucht. Die Straßenbahnen fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke
blieb er stehen und sah in den Fluß hinunter. Die Bogenlampen
spiegelten sich zitternd und waren wie eine Serie kleiner ms Wasser
gefallener Monde. Der Fluß war breit. Es mußte im Gebirge
gereg-net haben. Auf den Hügeln, welche die Stadt umgaben, brannten viele
zwinkernde Lichter.
Während er hier stand, lag Labude aufgebahrt in einer Grunewaldvilla,
und Cornelia lag bei Herrn Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie
beide. Fabian stand unter einem anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein
Fieber. Hier hatte es Untertemperatur.
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Herr Knorr bat Hühneraugen
Die "Tagespost" sucht tüchtige Leute
Lernt schwimmen!
Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro von
Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht. Fabian
fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten zu vergeben
hätte.
"Geh doch mal zu Holzapfel", meinte Wenzkat. "Der ist in der
"Tagespost"."
"Was treibt er denn dort?"
"Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Mu-sikkritiken.
Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag abend. Auf
Wiedersehen."
Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die Altstadt zu
Holzapfel, der sei bei der "Tagespost" Redakteur. Vielleicht könne ihm der
behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. "Das wäre
sehr schön, mein Junge", sagte sie. "Geh mit Gott!"
Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve, mit
einem baumlangen Herrn. Sie sahen einan-der mißgelaunt an. "Wir kennen
uns doch", meinte der Herr und streckte die Hand hin. Es war ein gewisser
Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener
Einjährigen-Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und
Teufel Tantiemen.
"Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg", sagte Fabian, "oder ich spuck
Ihnen drauf."
Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstge-meinten Rat und
lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. "Was hab ich
Ihnen denn getan?" fragte er, obwohl er das wußte.
"Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine
herunterhauen", sagte Fabian. "Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten
Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behelfen." Und damit trat er
Herrn Knorr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen
zusammenpreß-te und ganz blaß wurde. Die Umstehenden lachten,
Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs.
Holzapfel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außerordentlich
erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar Bürstenabzüge mit
Hieroglyphen. "Setz dich, Ja-kob", sagte er. "Ich muß die Vorschau
fürs Rennen korrigieren und einen Sammelbericht über Klavierkon-zerte. Lange
nicht gesehen. Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder
hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dauernd Bier.
Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kinder werden immer
älter, die Freundinnen werden immer jünger, wenn das mal keine
Lungenentzündung gibt." Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und
trank er ruhig weiter. "Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter,
daß ihn seine Frau mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein
guter Mechaniker. Bretschneider hat die Apotheke verkauft und sich eine
Klitsche ange-schafft. Er züchtet rote Grütze und Salzkartoffeln. Jedem für
sein Geld, was ihm schmeckt. So, die Klavierkonzerte können warten." Er
klingelte nach dem Boten und schick-te die Fahne mit der Rennvorschau in die
Setzerei. Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt
habe er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er
finde hier in der Stadt Arbeit. "Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen
auch nicht", stellte Holzapfel fest. "Vielleicht kann man dich im Feuilleton
brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches." Er hängte sich
ans Telefon und sprach mit dem Direktor. "Geh mal hin zu dem Kerl", schlug
er vor. "Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig."
Fabian bedankte sich, erinnerte den anderen an die
Klas-senzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. "Doktor
Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?" fragte der Direktor. "Sie haben
Literaturge-schichte studiert? Augenblicklich ist keine Stellung frei. Doch
das besagt nichts. Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer
brauchen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache Sie mit
dem Feuille-tonchef bekannt. Wenn er Ihre Beiträge ablehnt, haben Sie Pech
gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter willkommen." Er wollte
auf die Klingel drücken.
"Einen Moment, Herr Direktor", sagte Fabian. "Ich danke Ihnen für die
Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist arbeiten. Man könnte
beispielsweise eine Beratungsstelle für Inserenten einrichten, der
Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen und eventuell ganze Werbefeldzüge
organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und
systematische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompanie mit
Großinserenten, lohnende Preisausschreiben durchfüh-ren. Man könnte
für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten."
Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: "Unse-re
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden."
"Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!"
"Nicht mit Hilfe von Fisimatenten", erklärte der Direk-tor. "Immerhin,
ich werde mit unserem Insertionschef sprechen. In bescheidener Dosierung
sollte man vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die
Dauer nicht völlig werden entziehen können. Kommen Sie mor-gen um elf
wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit.
Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben."
Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse.
"Wenn wir Sie engagieren", sagte der Direktor, "erwarten Sie keine
phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld."
"Für die Angestellten?" fragte Fabian neugierig.
"Nein", sagte der Direktor, "für die Aktionäre."
Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich
Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die
Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein,
sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda
schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so
betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat,
Tag für Tag chloroformieren? Gehörte er zu Münzer und Konsorten?
Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches
Glied der Gesellschaft würde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft,
dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen
war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.
Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der
"Tagespost" unterkriechen konnte. Er wollte nicht unter-kriechen. Zum
Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor
abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er
konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzge-birge
hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein
halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts
dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte
von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und
die armen geduck-ten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das
Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht
wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf
den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht
reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter
lassen.
Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian
wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorange-kommen, oder zwei Schritte
zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die
gegenwärti-ge. Jede andere Stiuation war für ihn aussichtsreicher, ob es
Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr daneben-stehen wie das Kind
beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er
zupacken, und mit wem sollte er sich verbünden? Er wollte in die Stille zu
Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß
vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.
Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand
sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort?
Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er
zum Zu-schauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte,
zum Akteur im Welttheater?
Er blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Ringe, und er
sah doch nichts. An einem Korsettgeschäft kam er wieder zu sich. Das Leben
war eine der interessan-testen Beschäftigungen, trotz alledem. Die
Barockgebäu-de der Schloßstraße standen noch immer. Die Erbauer
und die ersten Mieter waren lange tot. Ein Glück, daß er nicht
umgekehrt war.
Fabian ging über die Brücke.
Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen
Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte.
Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die
Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer in den Fluß.
Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um.
Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und
die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das
Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die
Fahrgäste kletterten aus dem Wagen und beobachte-ten, was geschah. Am Ufer
rannten aufgeregte Leute hin und wider.
Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.
Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.
1931
Популярность: 1, Last-modified: Sat, 08 Feb 2003 06:56:11 GmT